Luft, Nitrox und Erschöpfung

Pressluft ist das Atemgasgemisch, das beim Sporttauchen seit Jahrzehnten Standard ist und dessen Verwendung am weitesten verbreitet ist. Atemgasgemische mit einem niedrigeren Stickstoff- und einem höheren Sauerstoffanteil (Nitrox) sind bei Tauchern zur Verlängerung der Grundzeiten oder zur Verringerung des Dekompressionsstress bei Tauchgängen mit typischen Tauchzeiten zunehmend beliebter geworden. Nach 25 Jahren der Verwendung von Nitrox beim Sporttauchen haben Taucher und Wissenschaftler in der Praxis mittlerweile sehr wertvolle Erfahrungen in der Anwendung machen können. Einige Taucher haben jedoch eine Beobachtung gemacht, die die Wissenschaft nicht beweisen kann. Und zwar haben sie den Eindruck, dass sie nach einem Nitrox-Tauchgang nicht so erschöpft sind.

Gibt es handfeste Beweise, die die Beobachtung untermauern, dass Nitrox weniger müde macht? Welche wissenschaftliche Erklärung gibt es möglicherweise für dieses Phänomen?

Müdigkeit oder körperliche Erschöpfung sind physiologische Konsequenzen außergewöhnlicher körperlicher Aktivität. Charakteristisch dafür ist das subjektive Gefühl einer vorübergehend reduzierten Fähigkeit normale körperliche Aktivitäten durchzuführen. Oft steht es mit Schläfrigkeit und Lethargie in Zusammenhang und manchmal mit suboptimaler geistiger Leistungsfähigkeit. Erschöpfung ist zwar nach ereignislosen Tauchgängen ohne offensichtliche Dekompressionskrankheit (DCS) nicht unüblich, wird aber auch häufig als Symptom einer DCS interpretiert.

Die subjektiven Berichte von Tauchern über ihre Erschöpfung nach Nitrox-Tauchgängen werden kontrovers diskutiert. Diesem persönlichen Eindruck der Taucher stehen objektive Studien gegenüber, die keinen glaubwürdigen Unterschied beim Erschöpfungszustand oder der geistigen Leistungsfähigkeit zwischen Luft- und Nitrox-Tauchgängen ausmachen konnten.

Bei derselben Tauchzeit und -tiefe ist generell anerkannt: je höher der Partialdruck des eingeatmeten Sauerstoffs (PO2) und je niedriger der Partialdruck des Inertgases (PN2), desto niedriger der Dekompressionsstress. Dabei ist die Annahme verlockend, dass ein niedrigerer Dekompressionsstress gleichzeitig mit dem Eindruck des Tauchers auftritt weniger erschöpft zu sein. Ein höherer PO2 führt jedoch zu mehr oxidativem Stress und der PO2 von Nitrox ist bei einer gewissen Tiefe höher als der von Luft.

Einige Studien gehen davon aus, dass der oxidative Stress, der durch den höheren Nitrox-PO2 entsteht, eine leichte Endotheldysfunktion verursachen kann, die wiederum zu undeutlichen Symptomen führen kann, die als Müdigkeit interpretiert werden könnten. Beobachtungen von Überdruckmedizinern (Klinikärzten), die von einem Zusammenhang zwischen größerem oxidativem Stress während einer hyperbaren Sauerstofftherapie und der stärkeren Ermüdung nach der Behandlung berichten, bestätigen diese Ergebnisse.

Wir haben zwei Experten zu dem Thema hinzugezogen, die uns dabei helfen sollen, die persönlichen Eindrücke der Taucher was die günstigen Auswirkungen von Nitrox auf den Erschöpfungsgrad nach einem Tauchgang angeht mit den kontroversen Ergebnissen der Studien zu diesem Phänomen unter einen Hut zu bringen.

Was sind mögliche Ursachen für das Gefühl der Erschöpfung nach dem Tauchen?

Richard Harris: Das Gefühl der Erschöpfung nach dem Tauchen kann von vielen Faktoren herrühren. Einige davon können mit dem Tauchen zusammenhängen. Z.B. mit thermischem Stress, Dekompressionsstress, Energieverbrauch, hoher Sauerstoffaufnahme über einen längeren Zeitraum hinweg, Angst und Seekrankheit. Aber es gibt noch viele andere möglicherweise unzusammenhängende Ursachen wie Schlafmangel im Urlaub, Alkohol, Jet Lag, usw.            

Neal Pollock: Viele Menschen verstehen die physiologischen Auswirkungen des vollständigen Eintauchens ins Wasser nicht richtig. Als sofortige Reaktion auf den hydrostatischen Druck wird eine erhebliche Menge des Bluts, das normalerweise in den Kapazitätsgefäßen (Venen) der Beine bleibt, zum zentralen Volumen (in die Brust) gepumpt.  Eine namhafte Untersuchung dieses Effektes hat festgestellt, dass während der Ruhephase des Herzzyklus durchschnittlich 700ml Blut ins Herz gedrückt werden. Das Herz wird durch das erhöhte Blutvolumen ausgedehnt und reagiert darauf sofort indem es sich stärker zusammenzieht und für kurze Zeit bestimmte Hormone unterdrückt damit die Nieren mehr Flüssigkeit ausscheiden. Das ist eine gesunde Reaktion auf den physiologischen Eindruck eines zu hohen Flüssigkeitsvolumens. In der Praxis ist das der Grund dafür, warum man selbst nach sehr kurzen Aufenthalten im Wasser urinieren muss.

Nach dem Verlassen des Wassers kann es bei dem Taucher zu einer sofortigen Reduzierung des Blutvolumens kommen, das zum Herzen zurückfließt. Ich sage hier gezielt "kann", denn ein einengender Nassanzug kann selbst schon ohne ein Eintauchen ins Wasser einen Teil des Blutes in die Brust leiten. Nach dem Tauchgang (oder nach dem Ausziehen des Nassanzugs) reduzieren sich bei dem Taucher das zentrale Blutvolumen und der Blutdruck. Die Wirkung geht über den einfachen Verlust von hydrostatischem Druck hinaus, da der Körper während des Tauchens (oder des Tragens des Nassanzugs) aktiv das Flüssigkeitsvolumen reduziert hat.  Tatsächlich erklären diese Vorgänge höchstwahrscheinlich den größten Teil des normalen Erschöpfungszustands nach dem Tauchen. Am wichtigsten jedoch ist, dass die Erschöpfung aufgrund des Eintauchens ins Wasser auftritt und unabhängig von der Tiefe und von Dekompressionsstress ist.

Gibt es verlässliche Daten, die die Behauptung bestätigen, dass Nitrox nach dem Tauchen zu weniger Erschöpfung führt als Luft?

Harris: Nein. Drei der von Experten geprüften Artikel (die ersten drei im Kästchen "Referenzen") haben Beweise zum Thema Nitrox und Erschöpfung zu bieten. Ich bin jedoch nicht davon überzeugt, dass durch die jeweilige Trennschärfe und den jeweiligen Stichprobenumfang das Problem umfassend angegangen wurde.

Pollock: Die Daten, die diese Behauptungen unterstützen sollen, sind nicht schlüssig. Das ist keine Überraschung, denn der PO2 steigt alleine schon aufgrund der Zunahme der Tiefe. Es gibt jedoch keinen Grund dafür darüber zu diskutieren, ob sich jemand weniger erschöpft fühlt oder nicht. Studien haben gezeigt, dass der Placebo-Effekt eine physiologische Auswirkung hat. Soll der Taucher dieses Gefühl also genießen. Am wichtigsten ist es für Taucher innerhalb der PO2-Grenzen zu bleiben um damit eine Sauerstofftoxizität zu vermeiden.

Da der höhere Anteil Sauerstoff im Nitrox zu erhöhtem oxidativem Stress zu führen scheint, wie würden Sie diese scheinbar kontraintuitiven Wirkungen von Nitrox erklären?

Harris: Eine interessante Bemerkung in Pierre Lafères Artikel ist, dass oxidativer Stress die neurale Aktivität behindern kann (wie z.B. Alkohol). Das kann sich auf inhibitorische Neuronen auswirken und so (vorübergehend) das Arousal-Niveau erhöhen. Persönlich gesprochen fühlten meine Teammitglieder und ich uns nach 8 bis 17stündigen Höhlentauchgängen in 6°C kaltem Wasser und bei maximalen Tiefen von über 200 Metern sehr gut.
Wie ließe sich das in Anbetracht des Dekompressionsstresses und des thermischen, physikalischen, oxidativen und psychologischen Stresses, den wir bei diesen Tauchgängen erlebten erklären? Vielleicht waren wir einfach nur froh am Leben zu sein? Ich habe mich aber auch schon nach sehr viel flacheren Tauchgängen mit niedrigeren O2-Aufnahmezeiten und kürzeren Aufenthalten in wärmerem Wasser miserabel, müde und erkältet gefühlt. Es gibt zu viele andere Variablen um durchweg nur aufgrund eines einfachen Atemgaswechsels einen Unterschied festzustellen.

Pollock: Oxidativer Stress hat sicherlich das Potenzial problematisch zu werden, bei den typischerweise kurzen Aufnahmezeiten von Sporttauchgängen vermutlich aber eher weniger.  Zur Untersuchung der physiologischen Auswirken bedarf es weiterer Studien.

Sind Ermüdung/Erschöpfung Ihrer Ansicht nach Anzeichen einer subklinischen DCS?

Harris: Ich denke Erschöpfung kann ein Symptom einer DCS sein, der Zustand muss jedoch schon herausragend sein um bei mir Eindruck zu machen. Schwere Erschöpfung, also das Gefühl zu haben an einer Grippe zu leiden und nicht nur "ein bisschen müder als sonst nach dem Tauchen" zu sein, ist schon eine ernstere Sache. Statt den Ausdruck subklinische DCS zu verwenden, von dem ich kein Fan bin, würde ich einen Erschöpfungszustand nur eine DCS nennen, wenn er Teil einer Konstellation von Symptomen ist.

Pollock: Normale Müdigkeitsmuster nach dem Tauchen würden hier also nicht zutreffen. Nur eine "ungewöhnliche Erschöpfung", die erheblich über dem typischen Niveau liegt, könnten ein Anzeichen oder, was wahrscheinlicher ist, ein Symptom sein. Es ist wichtig, den Taucher die Art und den Umfang der Wirkung beschreiben zu lassen um normal von außergewöhnlich zu unterscheiden.

Trotz des allgemeinen Eindrucks, dass ein Tauchgang mit Nitrox weniger müde macht als derselbe Tauchgang mit einem Gasgemisch, hat die wissenschaftliche Forschung bislang noch keinen soliden Beweis zur Untermauerung dieser Annahme hervorgebracht. Wie bereits erwähnt sollte der Placebo-Effekt jedoch nicht unterschätzt werden und muss noch weiter untersucht werden.

Egal welche Fragen zukünftige Untersuchungen in diesem Bereich vielleicht noch beantworten: es ist immer noch richtig für die kluge Verwendung von mit Sauerstoff angereicherten Mischungen zu werben. Nicht unbedingt mit dem Ziel die Grundzeiten auszudehnen, sondern eher zur Unterstützung der Reduzierung von Dekompressionsstress.   Wenn das Tauchen mit Nitrox dazu führt, dass Du Dich am Ende Deines Tauchtages weniger müde fühlst, egal, ob es nun eine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt oder nicht, dann nutze das aus, wenn Du willst – aber gehe dabei immer auf Nummer Sicher.


Unsere Experten

Richard Harris, BMBS, FANZCA, DipDHM, FFEWM ist ein australischer Narkosefacharzt, der in der Tauchmedizin und in der luftfahrtmedizinischen Rettung arbeitet.

Dr. Neal W. Pollock, Ph.D. ist Forschungsleiter bei DAN und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Hyperbaric Medicine and Environmental Physiology des Duke University Medical Center in Durham, North Carolina, USA

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