Das ‚P‘-Phänomen
„ James Crook aus Long Acre litt an Wassersucht, Gelbsucht, Lähmungserscheinungen, Rheuma und hartnäckigen Rückenschmerzen. Nach dreimaligem Untergetauchtsein nahmen die Schwellungen in seinen Beinen ab, auch die Schmerzen im Rücken ließen nach, ebenso die Gelbfärbung, und aus seiner Nase trat eine große Menge widerlichen gelben Eiters aus. Dass er danach mehr pisste, als er trank, mögen wir der Unnachgiebigkeit und dem Druck der ihn umgebenden Flüssigkeit zuschreiben. “A. Sutherland, 1764
Wie kommt es dazu?
Gehen Sie tauchen, schwimmen, oder steigen Sie in die Badewanne, und sie werden ‚müssen‘ müssen. Diese erhöhte Urinausscheidung wird als ‚P-Phänomen‘ bezeichnet, oder auch als Taucherdiurese. Dies wird in der Regel mit dem Eintauchen (normalerweise in Wasser) erklärt, bei dem Blut aus den Beinen in den Brustkorbbereich hochgedrückt wird. Die Rezeptoren zur Erfassung der Blutmenge im Herzen registrieren diese Zunahme und signalisieren dem Körper, etwas Flüssigkeit abzuführen, um das Volumen wieder auf ein normales Maß abzusenken.
Aber die Verschiebung von Flüssigkeit aus den Beinen erklärt nicht alles. In einer Studie, in der Personen, denen beide Beine amputiert worden waren, mit Nichtamputierten verglichen wurden, fand man heraus, dass die Flüssigkeitsmengen aus Beinen nur zum Teil dazu beitrugen. Sie können dies selbst überprüfen, indem Sie auf dem Kopf stehen oder mit den Beinen nach oben auf dem Rücken liegen.
Blut wird aus den Beinen verlagert, ohne dass die Diurese gesteigert wird. Was geschieht also noch?
Mechanische Faktoren
Körperposition. Es kommt zu einer höheren Diurese, wenn Sie bis zum Hals im Wasser eingetaucht sind, als wenn Sie nur bis zur Hüfte im Wasser sind. Eine Fehlannahme ist, dass ein größerer Wasserdruck auf den Beinen als auf dem Oberkörper das Blut nach oben drücken wird, beruhend auf der Tatsache, dass der Wasserdruck mit der Tiefe zunimmt.
Aber eine verstärkte Diurese tritt auf, wenn sich jemand horizontal im Wasser befindet, oder auch bei verschwindend geringer Schwerkraft während des Flugs im Weltraum, und bei diesen beiden Zuständen gibt es keine Druckdifferenz zwischen Kopf und Füßen. Diurese tritt ebenso auf, wenn man sich unter Wasser mit dem Kopf nach unten aufhält, wobei die Druckdifferenz (der hydrostatische Gradient) umgedreht wird. Was sonst spielt also eine Rolle?
Schwerkraft. Wenn man sich an Land hinlegt, ist der Blutdruck in Armen und Beinen etwa gleich. Wenn man aufsteht, steigt der Blutdruck in den Beinen aufgrund des Gewichts des Blutes in den darüber liegenden Gefäßen an. Die Blutmenge in den Beinen steigt aufgrund der Schwerkraft ebenfalls an, die Venen (mehr als die Arterien) dehnen sich aus und nehmen mehr Blut auf. Eine verringerte Eine verringerte Blutmenge kehrt zum Herzen zurück. Wenn Sie ins Wasser eintauchen, werden diese Wirkmechanismen auf die Blutmenge durch den Auftrieb zum großen Teil ausgehebelt. Dieser Druckausgleich im Blut ist es (und nicht die Presswirkung des Wasserdrucks), die die Blutmenge im Brustkorb und die Harnproduktion ansteigen lässt. Im Orbit ist die Wirkung der Schwerkraft stark herabgesetzt, und wie beim Auftrieb unter Wasser wird den Blutdruckmechanismen entgegengewirkt. Im All sammelt sich das Blut nicht in den Beinen. Astronauten und Wissenschaftler der Weltraumflugkontrolle verwenden einen technischen Begriff für die Flüssigkeitsverschiebung in Richtung Kopf während der Flüge im Weltraum; sie sprechen vom ‚Dickgesicht-Hühnerbein-Syndrom‘.
Unterdruck. Wenn Sie bis zum Hals im Wasser sind, ist der Luftdruck auf Mundhöhe niedriger als der Wasserdruck auf Ihrem Brustkorb. Das Einatmen ist etwas anstrengender, ähnlich wie beim Trinken durch einen Strohhalm. Das Einatmen mit diesem niedrigeren Luftdruck wird als Unterdruckatmung bezeichnet. Diese hat viele Auswirkungen. Eine ist, dass eine kleine Menge Blut in den Brustraum gezogen wird, verbunden mit einer leicht erhöhten Harnproduktion, wenn überhaupt. Unter Wasser liefern Tauchatemregler Atemluft mit annähernd dem gleichen Druck wie im umgebenden Wasser, gleich ob man mit dem Kopf nach oben oder nach unten positioniert ist. Aber es treten Schwankungen auf, die zu einem ständigen Wechsel von Über– und Unterdruckatmung und damit zu einer Verschiebung von belanglosen Blutmengen in beide Richtungen führen.
Chemische Faktoren
Die Kumulation von Blut im Körperzentrum durch die Taucheinwirkung stimuliert den Körper zur Ausschüttung interessanter chemischer Verbindungen, die Harnproduktion sowie die Ausscheidung von Natrium (Natriurese) und von Kalium (Kaliurese) mit dem Harn einleiten und regulieren. Eine der wesentlichen Substanzen für die Regulation der Flüssigkeitsausscheidung ist das Hormon Vasopressin. Vasopressin bewirkt unter anderem eine Konzentration und Verringerung der Urinausscheidung. Es wird allgemein als ‚antidiuretisches Hormon‘ (ADH) bezeichnet. ADH hat eine wichtige Funktion, denn es verhindert, dass wir bei unseren Alltagstätigkeiten austrocknen. Das Untergetauchtsein hemmt die Ausschüttung von ADH. Die ausgeschiedene Urinmenge steigt an, zumindest vorübergehend. Ein anderer wohlbekannter Faktor unterdrückt ebenfalls die ADH-Ausschüttung, mit einer vergleichbaren Wirkung: der Konsum einer größeren Menge Alkohol.
Eine für die Taucherdiurese noch bedeutsamere Substanz ist ANF. Wenn die Blutmenge sich beim Untergetauchtsein in der Körpermitte konzentriert, dehnen sich die oberen Herzhohlräume (Vorhöfe, Atrien) aufgrund der zusätzlichen Blutmenge aus. Um dieses zusätzliche Ausdehnungsvolumen wieder zu reduzieren, scheiden die Zellen der Atrien eine Substanz aus, die die Harnproduktion erhöht, das Durstgefühl unterdrückt, die Natriumausscheidung verstärkt und zugleich zur Ausschüttung einer gegensteuernden Kombination von chemischen Stoffen führt. Da diese Substanz in den Vorhöfen ausgeschüttet wird und ein wesentlicher Faktor der Natriumausscheidung ist, wird sie als ‚atrialer natriuretischer Faktor‘ (ANF) bezeichnet. Da ANF ein spezielles Proteinmolekül ist, ein Pepetidhormon, wird es auch ‚atriales natriuretisches Peptid‘ (ANP) genannt.
Umweltfaktoren
Die Harnproduktion ist bei Tag höher als bei Nacht; so können Sie nachts besser durchschlafen, tauchen, usw. Salzwasser hat eine größere Dichte als Süßwasser, erzeugt einen etwas größeren Auftrieb und eine etwas höher ausfallende diuretische Wirkung aufgrund der Flüssigkeitsverschiebung. Aber das sind nur unwesentliche Faktoren. Beim Untergetauchtsein in kaltem Wasser ziehen sich die Blutgefäße in den Gliedmaßen zusammen, um den Wärmeverlust zu begrenzen. Das Blut konzentriert sich im Körperzentrum und man verspürt einen großen Harndrang. In warmem Wasser, z. B. einem Wannenbad, fällt die Diurese nicht so groß aus, aber tritt immer noch auf, so lange, bis einem so warm geworden ist, dass die Blutgefäße Blut aus dem Körperzentrum wegführen, um Wärme abzuführen. Kälte ist ein derart bedeutender Faktor, dass man die Wirkung bereits spürt, wenn man unter eine kalte Dusche geht, also ohne überhaupt untergetaucht zu sein.
Individuelle Faktoren
Anstrengung reduziert die Harnproduktion aufgrund einer komplexen Kombination von Körperreaktionen. Bei einem Versuch in Bezug auf das Alter und die Wirkung des Untergetauchtseins fiel die Diurese bei älteren Personen (62 bis 74 Jahre) im Vergleich zu jüngeren (21 bis 28 Jahre) größer aus und trat auch schneller ein, auch bei einer vergleichbar großen, ins Körperzentrum verschobenen Blutmenge. Furcht, ängstliche Vorahnung und emotionaler Stress wirken sich verstärkend auf die neuralen Signale an die Nieren aus und erhöhen die Harnproduktion.
Unbekannte Faktoren
Wenngleich sich die Diurese mit der Tauchtiefe nicht verändert, nahm sie während Versuchen mit tiefen Sättigungstauchgängen in trockenen Druckkammern zu. Wir wissen nicht genau warum, aber der erhöhte Gasdruck und die erhöhte Gasdichte könnten Faktoren sein, ebenso der verminderte Flüssigkeitsverlust über die Haut. Der Körper wird in letzterem Fall den alternativen Weg zur Entsorgung von Wasser wählen.
Ein Mythos über den Harndrang
Es ist nicht richtig, dass man die Hand einer schlafenden Person in Wasser (gleich welcher Temperatur) halten kann und damit einen verstärkten Harndrang während des Schlafs auslöst.
Zusammenfassung
Das Untergetauchtsein ist nicht allein Ursache, zu einer verstärkten Diurese tragen viele Faktoren bei. Die Flüssigkeitsmenge wird durch Kombinationen von mechanischen, neuralen, umweltbedingten und chemischen Einflüssen mittels komplexer Rückkopplungsschleifen reguliert. Andererseits reduziert sich manchmal alles darauf, "dass Sie nun einmal müssen, wenn Sie müssen."