Bleomycin – Tauchen oder nicht?
(Anm. d. Redaktion: es folgt eine gekürzte Version des in Aviation, Space, and Environmental Medicine – Vol. 82, No 8, August 2011 veröffentlichten Artikels)
Einleitung
Bleomycin ist ein Chemotherapeutikum, das zur Behandlung von Hoden- und lymphomatösen Krebsarten verwendet wird. Versuche in den 1960ern offenbarten jedoch seine Lungentoxizität, die so genannte Bleomycin-induzierte Pneumonitis (BIP).
Lungentoxizität ist überwiegend fibrotisch wobei eine Lungenfibrose am ehesten durch das wiederholte Messen der Kohlenmonoxiddiffusionskapazität (DLCO), die auf okkulte Lungenveränderungen hinweisen kann, erkannt wird. Wenn ein Patient, der zuvor mit Bleomycin behandelt wurde, während der perioperativen und postoperativen Phase einem Hohen Grad an FiO2 ausgesetzt ist kann eine okkulte Lungenfibrose entstehen.
Bei Hodenkrebs handelt es sich um eine bösartige Tumorart, die am häufigsten bei Männern im Alter zwischen 20 und 34 Jahren vorkommt. Die Überlebensrate liegt bei über 90%. In dieser Altersgruppe treiben viele, die den Krebs überlebt haben, eine Outdoor-Sportart wie z.B. Gerätetauchen. Hierbei wird hauptsächlich komprimierte Luft zum Atmen verwendet (21% Sauerstoff, FiO2 = 0,21 bar). Während des Tauchgangs erhöht sich der Partialdruck des Sauerstoffs als eine Funktion des zunehmenden Wasserdrucks. Bei einer Tauchtiefe von 20 m, wo der Luftdruck bei 3 bar liegt, beträgt die inspiratorische Fraktion des Sauerstoffgehalts (FiO2) 0,63 bar. Basierend auf dieser Kalkulation würden die meisten Klinikärzte nach einer Bleomycinbehandlung aufgrund des durch den hohen FiO2-Wert gestiegenen Lungentoxizitätsrisikos vom Gerätetauchen abraten. Eine Studie zeigte jedoch, dass bei Patienten, die vorher mit Bleomycin behandelt worden waren, der erhöhte FiO2-Wert (0,40-0,87) während der perioperativen Phase nicht erheb-lich zu den Komplikationen einer späten BIP oder Fibrose beitrug.
Daraus zog man den Schluss, dass keine perioperative Einschränkung der Sauerstoffzufuhr notwendig ist. Einige Ärzte erlauben ihren mit Bleomycin behandelten Patienten das Gerätetauchen ohne Einschränkungen. Sie beziehen sich auf die Erfahrungen der Taucher in ihrer klinischen Population, die wieder mit dem Gerätetauchen begonnen hatten, ohne Komplikationen durch spätmanifeste BIP, Fibrose oder Lungenbarotraumata zu entwickeln. Wir stellen hier einen Algorithmus vor, der auf den besten Beweisen der onkologischen, anästhesiologischen und tauchmedizinischen Literatur basiert und der dazu verwendet werden kann Patienten zu evaluieren, die mit Bleomycin behandelt worden sind und (wieder) mit dem Gerätetauchen beginnen wollen. Wir haben den Algorithmus zur Bewertung der Tauglichkeit von 16 Sporttauchern (14 männlich, 2 weiblich), die mit Bleomycin gegen Hodenkrebs oder die Hodgkin-Krankheit behandelt worden waren, benutzt.
Methoden
Der Algorithmus (Abb.1) wurde in eine zwei-phasige Untersuchung aufgeteilt. In der ersten Phase wurde die allgemeine medizinische Vorgeschichte, die spezielle medizinische Vorgeschichte bezüglich der Krebserkrankung und der Behandlung mit Bleomycin sowie die dokumentierten Tauchgänge vor (und falls vorhanden) nach der Krebserkrankung untersucht. Umfassende Tests der Lungenfunktion, einschließlich einer Spirometrie sowie eines Tests des Restvolumens und der Diffusionskapazität bei einmaligem Atmen wurden durchgeführt. Durch die Lungenfunktionstests sollten Abnormalitäten ausgeschlossen werden, die beim Taucher ein Lungenbarotrauma auslösen können.
Die zweite Untersuchungsphase bestand aus einem Test, bei dem der Patient unter maximaler Anstrengung auf einem Heimtrainer Fahrrad fuhr und die maximalen VO2-Werte direkt gemessen sowie eine Blutgasanalyse und eine EKG-Überwachung durchgeführt wurden. Da es Hinweise darauf gibt, dass eine Chemotherapie das Risiko kardiovaskulärer Krankheiten bei Patienten mit Hodenkrebs erhöht, gehört zu unserem Algorithmus dieser Belastungstest auf dem Heimtrainer bei dem das Niveau der aeroben Fitness bei mindestens 80% des vorhergesagten Wertes liegen muss. Wir messen auch die Blutgase zu Beginn dieses Belastungstests und die maximale Auslastung, um Diffusionsabrnormalitäten festzustellen, die nicht unbedingt bei Lungendiffusionstests im Ruhezustand deutlich werden.
Schließlich wurde eine hochauflösende Computertomographie (HR-CT) der Lungen gemacht. Eine Thorax-CT, die sensibler als eine Standardröntgenaufnahme der Brust und besser bei der Erkennung von parenchymalen Lungenabnormalitäten ist, ist ebenfalls Teil des Algorithmus.
Lungenfunktionstests wurden mit Hilfe eines Vmax Encore Lurchgeführt. Spirometrie, Restvolumen, Bodyplethysmographie, Diffusionskapazität bei einmaligem Atmen (TLCO) und Transferkoeffizient (TLCO/VA) wurden gemäß den Anweisungen des Herstellers gemessen. Die TLCO und TLCO/VA-Werte wurden um die Hämoglobinwerte (Hb) bereinigt. Der Belastungstest wurde unter der kontinuierlichen Aufsicht eines Arztes durchgeführt, der das Belastungs-EKG las und Blutproben abnahm. Arterielle Blutgase wurden mit einem konventionellen Analysegerät gemessen.
Discussion
Alle Patienten waren vor der Krankheit aktive Sporttaucher gewesen. Einige nahmen nach der Behandlung das Gerätetauchen wieder auf, andere hörten auf Anraten ihres Arztes damit auf. Basierend auf unserem Algorithmus würden 12 der 16 Patienten einen positiven Rat bekommen und könnten wieder Gerätetauchen. Nichtsdestotrotz deutet der zahlenmäßige Unterschied der (ehemaligen) Patienten, die in den beiden Gruppen (Hoden- bzw. Keimzellenkrebs und Hodgkin) als tauchtauglich eingestuft wurden, darauf hin, dass bei Hodgkin-Patienten, die mit einer Kombination aus Bleomycin und Strahlentherapie behandelt wurden Vorsicht geboten ist. Grund hierfür ist das erhöhte Risiko Strahlungsinduzierter Lungenprobleme.
Unser Algorithmus für Taucher basiert auf dem Risiko eines Lungenbarotraumas. Restriktive Abnormalitäten (wie bei den spirometrischen Tests festgestellt) reduzieren die Lungenkomplianz und behindern den Gastransport: Sie stellen eine Kontraindikation zum Tauchen dar. Klinische und subklinische Lungenfibrose reduziert die Dehnbarkeit der Lungen und der Taucher riskiert einen Pneumothorax, ein Pneumomediastinum oder eine arterielle Gasembolie zu erleiden. Lufteinschlüsse aufgrund von parenchymalen Lungenabnormalitäten, lokalem fibrotischem Gewebe und der Bildung von Bullae sind ebenfalls Risikofaktoren. Aus diesem Grund ist die Durchführung von hochauflösenden Thorax-CTs, die sensibler als standardmäßige Bruströntgenaufnahmen sind und mit denen man daher parenchymale Lungenabnormalitäten entdecken kann, eine Grundvoraussetzung für den Algorithmus. Gerätetauchen ist anstrengend. Ein Taucher muss die körperlichen Voraussetzungen für besondere Bedingungen unter Wasser, d.h. beispielsweise für eine starke Strömung, die (möglicherweise) notwendige Rettung eines Tauchbuddys, etc. mitbringen. Mediziner müssen sicher sein, dass der Kandidat hinsichtlich seiner aeroben Fitness tauchtauglich ist. Konkret bedeutet das beispielsweise, dass die meisten jungen Krebspatienten mindestens sechs Monate bis ein Jahr brauchen bevor sie wieder Sport treiben und tauchen können. Daher ist auch ein Belastungstest Teil unseres Algorithmus.
Ob das Gerätetauchen nach einer Bleomycinbehandlung ratsam ist wird weiterhin kontrovers diskutiert. Der konservative Ansatz stützt sich auf klinische Studien und Tierversuche, die sehr klar den Zusammenhang zwischen Bleomycin-Toxizität und Sauerstofftherapien hervorheben. Die meisten dieser Studien stammen aus den 1980er Jahren und dokumentieren anekdotische klinische Ergebnisse von Lungenkomplikationen, die hohen FiO2-Werten zugeschrieben werden.
Tierversuche haben zu gegensätzlichen Ergebnissen geführt: einige Studien untersuchten die verschiedenen Faktoren, die die Lungenmorbidität in Zusammenhang mit Bleomycin beeinflussen. Diese Studien kamen zu dem Schluss, dass mit keiner nennenswerten Wirkung auf die Lungentoxizität zu rechnen ist. Die Mehrzahl der anderen Tierversuche untermauern diese Daten in Bezug auf die Sauerstofftoxizität.
Der liberalere Ansatz bei Empfehlungen zum Gerätetauchen bezieht sich auf anästhesiologische Studien, die bei 835 mit Bleomycin behandelten Patienten keine prozentuale Zunahme von Lungenproblemen (6.8%) feststellen konnten. Eine weitere Gruppe untersuchte 77 Patienten mit einem durchschnittlichen FiO2-Wert von 0,87 (56 Minuten) und einem intraoperativen FiO2-Wert von 0,4 (8 Stunden). Die Autoren gelangen zu dem Schluss, dass der FiO2-Wert bei der multivariaten Analyse keinen nennenswerten Faktor bei den Komplikationen darstellte.
In dem seltenen Fall, dass ein Patient, der mit Bleocymin behandelt wurde wieder mit dem Gerätetauchen beginnt und dann eine DCS entwickelt, benötigt er/sie sofort eine hyperbare Behandlung. Die standardmäßigen Behandlungstabellen arbeiten mit einem FiO2 von 2,0-2,8 bar über 4-8 Stunden, was möglicherweise zu Lungenschäden, Fibrose und BIP führen kann. Taucher sollten also über das Risiko informiert werden. Nichtsdestotrotz lag die Anzahl der hyperbaren Behandlungen in einem Bericht über 11 Bleomycinpatienten, die sich einer hyperbaren Sauerstofftherapie bei einem FiO2 von 2,0 bar über 2 Stunden je Behandlung unterzogen, bei 8 bis 44. Nur ein Patient klagte über nicht unerhebliche Brustschmerzen. Bei ihm wurde eine objektive Reduzierung (50%)der Diffusionskapazität verzeichnet, die durch eine Unterbrechung der Behandlung jedoch beigelegt wurde. Die generelle Empfehlung der internationalen Expertengemeinschaft ist es, dass eine hyperbare Sauerstofftherapie vermutlich erst ein Jahr nach einer Bleocyminbehandlung sicher ist.
Unsere Studie hat ihre Grenzen. Zunächst einmal ist sie hinsichtlich der Studienpopluation einseitig. Nur Patienten, die nach einer Bleomycinbehandlung körperlich fit sind, werden weiter Sport und hier vor allem das Gerätetauchen betreiben, und an der Studie teilnehmen. Ebenso haben die (Tauch-) Zeitschriften, in denen wir unsere Ankündigung veröffentlicht haben, zum Selektionsbias beigetragen.
Zweitens besteht die Studie aus einer kleinen Gruppe Patienten mit Hoden- bzw. Keimzellenkrebs oder mit der Hodgkin-Krankheit, deren Mitglieder sich sowohl durch die Art und den Ausmaß/die Phase der jeweiligen Krankheit unterscheiden. Drei der 16 Patienten (die aufgrund unseres Protokolls als tauchuntauglich eingestuft wurden) waren im Rahmen ihrer Behandlung gegen Hodgkin am Thorax bestrahlt worden. Die fibrotischen Läsionen ihrer Lungen könnten auf die Bestrahlung und nicht auf die Bleomycinbehandlung zurückzuführen sein. Die Lungen reagieren besonders empfindlich auf Strahlung und bei über 30% der Patienten, deren Lungen direkt oder indirekt bestrahlt wurden, wird von abnormen radiografischen Ergebnissen oder einschränkenden Veränderungen bei der Untersuchung der Lungenfunktion berichtet.
Drittens ist die Empfehlung, ohne Nitrox auf eine Tiefe von 25m (FiO2: 0,7 bar) zu tauchen nicht evidenzbasiert und die Meinungen der Autoren werden von erfahreneren Tauchern oder Instructors vermutlich als moderat konservativ angesehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Algorithmus benötigt wird, der die internationale Gemeinschaft der Tauchmediziner bei der Untersuchung von Gerätetauchern unterstützt, die mit Bleomycin behandelt wurden. Von den Millionen an Sporttauchern auf der Welt, wird ein nicht unerheblicher Prozentsatz junger Menschen mit Bleocymin geheilt werden. Es gibt viele Meinungen zum Thema Bleomycin und Gerätetauchen und, obwohl er noch nicht evidenzbasiert ist, glauben wir, dass unser Algorithmus einen wertvollen Beitrag zu dieser Diskussion leisten wird. Wir sind der Ansicht, dass es mit einigen wichtigen Einschränkungen, vertretbar ist sorgfältig ausgewählten Patienten, nach einer Bleomycintherapie wieder das Gerätetauchen zu erlauben.
Ergebnisse
Von den 16 Patienten unserer Studie waren 11 mit Bleomycin gegen Hoden- bzw. Keimzellenkrebs und 5 gegen die Hodgkin-Krankheit behandelt worden. Alle bis auf einen Patienten waren Nichtraucher.
Spirometrie
Die spirometrischen Werte (auch die Durchflussvolumenkurven) waren normal. Nur bei einem Patienten (mit Hodgkin) wurden niedrigere Werte beim VC und dem prognostizierten FEV1-Prozentsatz gemessen. Bei diesem Patienten lag die Verteilung des Restvolumens bzw. der gesamten Lungenkapazität (RV/TLC) bei etwa 75% des prognostizierten Wertes, was auf restriktive Abnormalitäten hindeutet. Aus diesem Grund wurde er bereits nach der Spirometrie des Algorithmus tauchuntauglich erklärt.
Diffusionskapazität
Die meisten Patienten wiesen im Ruhezustand niedrige Diffusions-und Diffusionskapazitätswerte auf, die jedoch im Rahmen der Referenzwerte lagen. Belastungs test/arteriell e Blutgase Während des Belastungstest hatten alle Patienten normal Blutgase, was auf eine normale Ventilation und Diffusion hindeutet, sowie ein normales EKG und normalen Blutdruck. Bei 9 Patienten erhöhten sich die PaO2-Werte während der höchsten Belastungsstufe, bei 6 Patienten kam es zu einer unwesentlichen (<10%) Reduzierung bei normaler Belastungstoleranz. Bei einem Patienten konnten die Blutgaswerte aufgrund technischer Probleme nicht ermittelt werden.
Hochauflösende Computertomographie
Von den 16 Patienten hatten vier Patienten abnormale CTs mit fibrotischen Läsionen bzw. Lufteinschlüssen: Patient 9 aus der Gruppe mit Hodenkrebs (Raucher), sowie drei der vier Patienten, die gegen die Hodgkin-Krankheit mit Bleomycin und zusätzlicher Brust- un Lungenbestrahlung behandelt worden waren. Gemäß unserem Algorithmus waren 10 der 11 Patienten mit Hoden- bzw. Keimzellenkrebs tauchtauglich. Zwei der fünf Patienten mit der Hodgkin-Krankheit jedoch nicht.