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Medizinische Beiträge

Viagra – Fluch oder Segen für einen Taucher?

Es ist relativ wahrscheinlich, dass manche Männer im Alter von 40, 50 und 60 Jahren Viagra einnehmen und vielleicht auch Taucher sind. Daher sollte man sie vor der Tatsache warnen, dass Viagra, wenn man es vor dem Tauchen einnimmt, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Risiko einer Dekompressionserkrankung (DCS) erhöht, wohingegen es sich sogar günstig auswirken kann, wenn es nach dem Tauchen eingenommen wird.

Wenn Wissenschaftler beschließen, kleine Nagetiere mit Medikamenten zu behandeln und sie dann eine Druckkammerfahrt machen lassen, dann könne Taucher davon ausgehen, dass diese Wissenschaftler auf der hoffnungsvollen Suche nach einem Heilmittel gegen die Dekompressionserkrankung sind. Darüber hinaus weckt eine derartige Studie natürlich Aufmerksamkeit, wenn es sich bei dem Medikament um Viagra handelt, dem wahrscheinlich bekanntesten Medikament überhaupt.

Weniger bekannt ist jedoch der Wirkstoff in Viagra, Sildenafil, der ursprünglich als Medikament gegen Bluthochdruck entwickelt wurde. Sein positiver Nutzen für den männlichen Teil der Menschheit war eigentlich nur eine Nebenwirkung des Wirkstoffs, der daraufhin von Pfizer intensiv vermarktet wurde, wie wohl den meisten bekannt ist.

Heutzutage ist Sildenafil zur Behandlung von pulmonaler Hypertonie (Lungenhochdruck) und anderen Gefäßerkrankungen zugelassen. In Anwendungen außerhalb seiner Zulassung (off-label) konnte es erfolgreich zur Behandlung von SIPE (swimming induced pulmonary edema, durch das Eintauchen in kaltes Wasser ausgelöstes Lungenödem) bei Triathleten eingesetzt werden. Der Hauptunterschied zu Viagra ist, dass Sildenafil dann in niedrigeren Dosen verabreicht wird als sein berühmter Verwandter.

PDE-5-Inhibitoren, exogenes und endogenes NO und Vasodilatation

Sildenafil wirkt auf das Endothel, der inneren Wand der Blutgefäße, und erweitert diese, indem es einfach die gefäßerweiternde Wirkung auf die glatte Muskulatur potenziert. Dies geschieht durch die Hemmung eines Enzyms, Phosphodiesterase-Typ 5 (PDE5). Kurz gesagt, Sildenafil ist ein PDE5-Inhibitor (PDE5-Hemmer). Es senkt den Blutdruck, indem es die Gefäße erweitert. Diese Wirkung gleicht der Wirkung von NO (Stickstoffoxid) auf Gefäße: es erweitert diese ebenso. Deshalb nahmen die Wissenschaftler an, dass ein gefäßerweiterndes Medikament wie Sildenafil (Viagra) Taucher gegen die Dekompressionserkrankung (DCS) schützen könnte. DCS entsteht durch die Bildung von Bläschen, die nach der Dekompression in den Blutgefäßen aus Mikro-Bläschenkernen (Nuclei) gebildet werden. Stickstofffreisetzende Substanzen haben eine reduzierende Wirkung auf die Bläschenbildung und verhindern schwerwiegende Dekompressionssymptome.

Studie zur Vorbehandlung mit Sildenafil

Jegliche Hoffnungen eines neuen Heilmittels für DCS wurden allerdings zerstört, als die Wissenschaftler Blatteau, Brubakk, Gempp, Castagna, Risso und Vallée die Wirkung der Vorbehandlung mit Sildenafil im Tiermodell untersuchten und herausfanden, dass Sildenafil ganz und gar nicht gegen DCS schützt, sondern stattdessen eher Schaden anrichtet und Taucher besser gewarnt werden sollten.

Um die klinischen Wirkungen von Sildenafil zu untersuchen, verabreichten die Wissenschaftler kleinen Nagetieren eine Stunde vor dem Tauchen 10mg/kg Sildenafil, dann schickten sie diese in einer Druckkammer auf einen simulierten 45-minütigen Tauchgang in 90 Meter Seewasser und danach in eine stufenweise Dekompression. Eine halbe Stunde nach dem Tauchgang wurden Symptome neurologischer DCS, Blutzellzahl und mengenmäßige Erfassung zirkulierender Bläschen im venösen Kreislauf klinisch erfasst. Die Kontrollgruppe war nicht mit Sildenafil vorbehandelt, sondern erhielt vor dem Tauchgang unter gleichen Bedingungen Wasser der entsprechenden Menge.

Negatives Ergebnis der Studie 

Wie oben erwähnt, wurden die Hoffnungen der Wissenschaftler enttäuscht: es gab mehr DCS-Fälle in der Sildenafil-Gruppe als in der unbehandelten Kontrollgruppe. Weitere Ergebnisse waren: reduzierte Thrombozytenzahlen in der Sildenafil-Gruppe – einem Biomarker für Dekompressionsstress. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass bei DCS Stickstoffbläschen das Gefäßendothel schädigen und eine Entzündungsreaktion hervorrufen, die zur Aktivierung von Leukozyten führt, die nach einer DCS durch die Gefäßwand wandern, was die reduzierte Zahl erklärt.

Positiver Nutzen für Schwimmer 

Wie enttäuschend auch immer diese Ergebnisse in Bezug auf die Dekompressionserkrankung sind, so sollten sie dennoch nicht mit der nützlichen Wirkung verwechselt werden, die Sildenafil bei Triathleten auf SIPE (schwimm-induziertes pulmonales Ödem) hat, bei denen es wirksam die Symptome linderte, wenn es zuvor eingenommen wurde. Schwimmen, zwar auch eine Wassersportart, unterscheidet sich vom Gerätetauchen jedoch sehr stark. Größere Tiefen und höhere Drücke beim Tauchen sind der Hauptunterschied. Was für den einen gut ist, kann für den anderen schlecht sein.

Wie lässt es sich erklären …

Die Erklärung der Wissenschaftler für das erhöhte DCS-Risiko nach Einnahme von Sildenafil vor dem Tauchen, ist, dass die erhöhte Durchblutung des Gehirns aufgrund des gefäßerweiternden Effekts von Sildenafil im zentralen Nervensystem mit einer höheren Durchblutung und einer größeren Ladung von wesentlich mehr inertem Gas während der hyperbaren Exposition verbunden ist; dies wiederum rufe dann eine Bläschenbildung und schwerwiegende DCS-Symptome im neurologischen Gewebe hervor.

Was wissen wir jetzt?

Sildenafil genauso wie NO (d.h. körpereigen gebildetes, endogenes,  oder von extern zugeführtes, exogenes) sind starke Gefäßdilatatoren. In Preconditioning- Studien hat sich NO bei der Senkung des DCS-Risikos als effektives Mittel erwiesen. Aber so simpel ist es nicht, dass der Gebrauch eines gefäßerweiternden Medikaments allein das DCS-Risiko mindern könnte. Es besteht offenbar ein Unterschied zwischen endogenen/exogenen NO-Donoren und einem Medikament wie dem PDE5-Inhibitor Sildenafil. Ein endogener NO-Donor wird als Folge von Sport bzw. Bewegung freigesetzt, ein exogener NO-Donor kann über die Nahrung aufgenommen werden. In der oben erwähnten Studie konnte Sildenafil im Tiermodell die Bläschenbildung nicht senken, aber es ist bekannt, dass NO (Stickstoffoxid) die Bläschenbildung bei Nagetier und Mensch reduziert, wie es in Preconditioning-Studien gezeigt werden konnte (siehe Balestra et al.). Daher müssen NO-Donoren Eigenschaften haben und über Mechanismen verfügen, die sich von denen bei Sildenafil unterscheiden. Dies legt nahe, dass die Anwesenheit von Gasnuklei an der Gefäßwand nicht direkt vom gefäßerweiternden Effekt beeinflusst wird, der mit der Relaxierung der glatten Muskulatur verbunden ist. NO scheint über besondere Effekte zu verfügen, die an der Senkung der Zahl der Gasnuklei beteiligt sind, die an der Oberfläche des Endothels haften. Es kann auch zur gefäßinneren Oberfläche des Endothels diffundieren und wichtige physiologische Effekte triggern wie zum Beispiel das Abfangen von Superoxidradikalen, die Hemmung der Thrombozytenaggregation, die Modulation der Durchlässigkeit der Endothelschicht und die Abschwächung der Leukozytenfunktion.

Sildenafil scheint diese speziellen Wirkungen jedoch nicht zu haben.

Behandlungsoption nach einer Dekompressionserkrankung 

Was allerdings in der einen Situation nicht von Nutzen ist, kann unter anderen Umständen Gutes bewirken: die Erhöhung der Durchblutung im Gehirn und die Verbesserung funktioneller Wiederherstellung ischämischen Gewebes haben sich bei der Behandlung von Schlaganfällen mit Sildenafil 24 Stunden nach Einsetzen einer Durchblutungsstörung nach Schlaganfall als nützlich erwiesen. Das erhöht die Hoffnung, dass Sildenafil als adjuvante, d.h. unterstützende Therapie auch bei ischämischer neurologischer DCS bei Tauchern, die nach anfänglicher Behandlung mit hyperbarem Sauerstoff nicht wiederhergestellt sind, nützlich sein könnte.

Was lernen wir daraus? 

GERÄTETAUCHER: 

Preconditioning-Methoden (wie Sauna und leichtes körperliches Training) sind nützlich, wenn sie vor dem Tauchen angewandt werden. Sie triggern die Freisetzung von endogenem NO, wodurch Mikronuclei von der Innenschicht der Blutgefäße entfernt werden und daher wahrscheinlich das DCS-Risiko vermindern.

Starke körperliche Anstrengung oder Sauna innerhalb von 24-48 Stunden nach dem Tauchen erhöht das DCS-Risiko, weil es die Durchblutung in den meisten Geweben erhöht und zu erhöhter Bläschenbildung des ausgasenden Stickstoffs führt.

Im Tiermodell erhöht Sildenafil das DCS-Risiko, wenn es vor dem Tauchen eingenommen wird. (Es sind bisher keine Fälle von Tauchern bekannt.)

Wenn jemand bereits DCS-Symptome hat und bereits in einer Druckkammer behandelt wurde,  kann Sildenafil nach dem Tauchen und einer HBOT (hyperbaren Sauerstofftherapie)  nützlich sein, weil es vielleicht die Symptome neurologischer DCS lindern hilft, indem die Durchblutung des Gehirns erhöht wird. Dies ist eine Annahme, die auf Schlaganfallstudien an Nagetieren basiert und erfordert daher weitere Forschungen.

SCHWIMMER, TRIATHLETEN und andere ATHLETEN für EXTREME SPORTARTEN:

Eine erfolgreiche indikationsfremde Behandlung hat gezeigt, dass Sildenafil in Niedrigdosierung erfolgreich Symptome wie SIPE und der Höhenkrankheit behandeln kann.

Ein Warnhinweis 

Die Forscher dieser Studie schlussfolgern, dass die Vorbehandlung mit Sildenafil (Viagra) – oder anderen Medikamenten mit ähnlichem Wirkmechanismus (d.h. PDE-5-Inhibitoren) – das Einsetzen und die Schwere von Symptomen neurologischer Dekompressionserkrankung (DCS) fördert. Dies ist ein wichtiges Ergebnis und sollte der Gemeinschaft der Taucher mitgeteilt werden.

Wie immer, wenn man Medikamente einnimmt und tauchen geht: Taucher sollten zuvor unbedingt ihren Arzt und Taucharzt um Rat fragen. Das ist besonders wichtig, wenn es um Viagra geht. Mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und ein möglicher Einfluss auf vorliegende Grunderkrankungen sollten vor dem Hintergrund des Tauchens immer zuvor besprochen und geklärt werden.

Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen …

Die Forschung hat gezeigt, dass weitere Studien zu Markern für oxidativen Stress im Zentralnervensystem (ZNS) erforderlich sind, um den zugrundeliegenden Mechanismus von Sildenafil bei der Auslösung von DCS besser verstehen zu können.


Quellen:

Link zu diesem Artikel: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23580342

Veröffentlichung zum Thema Preconditioning: Blatteau JE, Gempp E, Balestra C, Mets T, Germonpre P (2008) Predive sauna and venous gas bubbles upon decompression from 400 kPa. Aviat Space Environ Med 79(12): 1100–1105 [PubMed]

Artikel über Sildenafil und SIPE: http://www.medicalnewstoday.com/articles/306754.php


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