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Medizinische Beiträge

Herzfrequenzvariabilität und dekompressionsbedingter physiologischer Stress

Anmerkung der Redaktion: Wir präsentieren hier die Analyse eines wissenschaftlichen Contributors zu einer Studie, an der DAN-Forscher beteiligt waren und die den komplexen Zusammenhang zwischen der Herzfrequenzvariabilität (HRV) und Dekompressionsstress erforscht.


Ganz gleich, ob an Land ein leckerer Snack oder wichtige Forschungsdaten warten – der Gedanke, seine Dekompression um fünf Minuten zu verkürzen, ist für viele Taucher sehr reizvoll.

Dank aktueller Forschungsarbeiten eines brasilianisch-italienischen Teams und deutlichen Fortschritten in unserem Verständnis von Dekompressionskrankheit wird es vielleicht bald möglich sein, seine Dekompression auf eine ganz neue Art und Weise zu planen. Im Rahmen der Forschung an einem Werkzeug zur besseren Quantifizierung von Dekompressionsstress ist es in einem aktuellen Projekt gelungen, eine ursprünglich in der Kardiologie verwendete Messgröße mit bekannten Indikatoren von Dekompressionsstress zu korrelieren. Hierbei wird Dekompressionskrankheit nicht lediglich als Folge von ein paar Bläschen im Blut betrachtet sondern als vielschichtiges Krankheitsbild mit einer Reihe von Auslösern und physiologischen Reaktionen.

Bei der Dekompressionskrankheit (DCS) geht zwar es immer noch um Bläschen, aber nicht mehr nur um Bläschen. Im Verlauf der letzen zehn Jahre hat die Forschung ihr Modell von DCS um eine Vielzahl physiologischer Reaktionen und komplexer biochemischer Vorgänge erweitert. Katalysator dieses Wandels war in erster Linie die Einbeziehung von Funktionsstörungen der Endothelzellen. Signal- und Antwortprozesse dieser Zellen wurden mit einer Vielzahl pathologischer Vorgänge in Verbindung gebracht, und der Kenntnisstand über die Beteiligung von Entzündungsprozessen an bekannten Krankheiten ist förmlich explodiert. Funktionstörungen des Endothels sind komplex, und die Forschung zu diesem Thema befindet sich noch in der Entwicklung. Die Schlüsselerkenntnis jedoch ist, dass auch Krankheiten, von denen wir dachten, sie seien gründlich erforscht, nicht allein das Produkt eines bestimmten Erregers sind, sondern eine Kombination von Auslösern und der Reaktion des menschlichen Körpers auf diese – und in manchen Fällen scheint der Auslöser sogar eher zweitrangig zu sein.

Leider heißt das auch, dass wir uns die Dekompressionskrankheit nicht schlicht als Bläschen in der Blutbahn vorstellen können. In der Realität hat sich gezeigt, dass venöse Gasemboli (tatsächliche Bläschen) ein schlechter Indikator für DCS sind und von Person zu Person gewaltige Unterschiede bestehen. Statt dessen werden Funktionsstörungen des Endothels mit Überdruck allgemein in Verbindung gebracht. Forschende begannen, sich intensiv mit den Zusammenhängen zwischen Entzündungsprozessen, Aktiviäten zwischen den Tauchgängen, und der möglicherweise nachfolgenden Dekompressionskrankheit auseinanderzusetzen.

Die Rolle der Herzfrequenzvariabilität

Als ein möglicher allgemeiner Indikator für eine Reihe spezifischer Entzündungsreaktionen wird die Herzfrequenzvariabilität (Heart Rate Variability, HRV) mit verschiedenen Erkrankungen von Diabetes bis zu Störungen des Herz-Kreislauf-Systems in Verbindung gebracht. Sie verändert sich auch beim Tauchen. Hier kommt diese aktuelle Studie ins Spiel. Es wurde gezeigt, dass Mikropartikel in der Blutbahn mit Entzündungen korrelieren. Die HRV verändert sich beim Tauchen und korreliert ebenfalls mit Entzündungen, und die Präsenz von Mikropartikeln erhöht sich mit der Belastung durch Inertgase unter Druck. Es wäre möglich, dass die HRV als Mittel zur Erfassung der Entzündungsreaktion bei Tauchern und somit zur Abschätzung des Risikos einer Dekompressionskrankheit verwendet werden könnte. Das klingt ehrgeizig, und ist es auch, doch wenn sich eine Korrelation zwischen HRV und dekompressionsbedingtem physiologischen Stress validieren ließe, wäre dies enorm nützlich – für unser Verständnis, wann und wie Tauchverletzungen zustande kommen und was die physiologischen Reaktionen auf Dekompressionsstress sind, sowie als Mittel zur Abschätzung des Dekompressionsrisikos vor Ort. Wir sind noch nicht am Ziel, aber es ist ein spannender erster Schritt. Bläschen-Nerds träumen von sowas.

Die Grundlagenforschung ist ein wenig komplex. Im Kern jedoch geht es um die Idee, HRV mit Entzündungsmarkern zu korrelieren, die wiederum mit Dekompressionskrankheit im Zusammenhang stehen, und dies dann als Maß für das Risiko einer Dekompressionskrankheit zu verwenden. Das Forschungsteam untersuchte zu diesem Zweck Marker aus den Blutproben zusammen mit EKGs. In drei verschiendenen Einrichtungen wurden 28 Freiwillige jeweils zwei getrennten Tauchprofilen ausgesetzt. Dekompressionszeit und Gesamt-Übersättigung waren bei beiden Tauchgängen gleich, während die Tiefe der Deko-Stopps unterschiedlich war um Effekte der spezifischen Tauchprofile zu minimieren. Die Intervalle zwischen den Tauchgängen und den Zeitpunkten der Datensammlung waren gleich.

In der Analyse wurden die Daten beider Profile zur einem einzigen Datensatz zusammengefasst. Druckbelastung, Tauchzeit, Oberflächenintervalle und die Intervalle zwischen den Datenerhebungen waren ähnlich. Je nach Einrichtung verwendeten die Teilnehmer entweder geschlossene Rebreather (CCR) oder offenes Gerät, oder die Tauchgänge fanden in der Druckkammer statt. EKGs wurden jeweils 30 Minuten vor und nach dem Tauchgang aufgenommen, und das Intervall zwischen den Tauchgängen wurde mit mindestens 48 Stunden festgelegt, um Effekte durch Vorbelastung auszuschließen.

Bild: Fließdiagramm zum Verfahren – Assoziation zwischen Herzfrequenzvariabilität und dekompressionsbedingtem physiologischem Stress

Das genaue Verfahren zur Analyse signifikanten Ergebnisse beschreiben die Autoren am besten selbst. Anschließend wurden in einem theoretischen Modell die Ergebnisse aus der relativ kleinen Datenmenge auf einen Datensatz von etwa 1000 Tauchgängen extrapoliert. In der Nachanalyse gibt es mehrere interessante Punkte, die zu verfolgen sich lohnt. Der Fokus auf den Zusammenhang zwischen HRV und Indikatoren für eine Entzündung zeigte eine statistisch relevante Veränderung, die vielversprechend sein könnte.

Auch wenn die Daten etwas einschüchternd wirken mögen, die wichtigsten Trend findet man im Verhältis von HF und SDNN, Annexin und MP, sowie der positivien Assoziation zwischen LF und CD66b+ und CD31+ MPs. Im Wesentlichen heißt das, dass multiple Datenkorrelationen in einer Weise konvergieren, die statistische haltbare Nachweise für die Hypothese der Forscher  liefert.

Post-Modellierung der Verhältnisse zwischen HRV-Indikatoren, MPO und MP – Assoziation zwischen Herzfrequenzvariabilität und dekompressionbedingtem physiologischem Stress

Anmerkung: LF und HF sind Tief- und Hochfrequenzfilter bei EKG-Studien. Beide repräsentieren verschiedene Facetten der elektrokardiografischen HRV-Analyse. Die Unterschiede sind für das Gesamtverständnis der Studie nicht unbedingt ausschlaggebend. Interessierte finden  weitere Informationen hier. 

Schlussfolgerungen

Wenn Ihnen das alles ein bisschen zu viel Stoff ist für eine entspannte Nachmittagslektüre, dann sind Sie nicht allein. Die Anzahl der Variablen, die Entzündungsprozesse, Dekompressionkrankheit und auch die ganz normale HRV beeinflussen, ist fast unermesslich, und eine möglichst große Anzahl von ihnen zu erfassen erfordert viel Grundlagenforschung und experimentelle Planung. Die Ergebnisse scheinen jedoch eine Korrelation zwischen HRV nach der Dekompression und den von den Forschern gewählten Indikatoren für Entzündungen und Stress zu zeigen. Das ist zwar noch kein Grund, sich einen Pulsmesser zu kaufen und seine Deko abzukürzen, aber ein vielversprechendes Resultat mit viel Potential für die Zukunft. Allerdings gibt es auch Tierversuche, welche den Ergebnissen dieser Studie zwar nicht direkt widersprechen, diese jedoch auch nicht unterstützen. Bei Subjekten, die tatsächlich an DCS erkranken, kann der Fall auch wieder anders liegen. Das Potential für zukünftige Forschung ist enorm.

Falls sich die Beziehung zwischen HRV und Dekompressionsstress weiter erhärten ließe und es machbar würde, dass Taucher Dekompressionsmodelle in Echtzeit qualitativ validieren, könnte ein echtes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Übersättigung der Gewebe und Dekompressionkrankheit endlich möglich werden. Wenn sich dieses Modell bestätigt, könnte dies die Art und Weise, auf die wir Dekompression planen, sowie unser Verständnis und die Behandlung von Dekompressionkrankheit fundamental ändern. Armbanduhren, die Herzarrhythmien erkennen können, sind im Handel erhältlich, und es ist nicht unmöglich, dass HRV-Modelle in Zukunft auch in Tauchcomputer integriert werden. Das heißt nicht, dass Sie Ihre Art zu tauchen von heute auf morgen umstellen sollten. Ein faceettenreicheres Verständnis von Dekompressionskrankheit ist jedoch ein Grund, mit Spannung auf die Zukunft zu blicken.


Quellen: 

  1. Brubakk, A. O., Duplancic, D., Valic, Z., Palada, I., Obad, A., Bakovic, D., et al. (2005). A single air dive reduces arterial endothelial function in man. J. Physiol. 566, 901–906. doi: 10.1113/jphysiol.089862
  2. Papadopoulou, V., Germonpré, P., Cosgrove, D., Eckersley, R. J., Dayton, P. A., Obeid, G., et al. (2018). Variability in circulating gas emboli after a same scuba diving exposure. Eur. J. Appl. Physiol. 118, 1255–1264. doi: 10.1007/s00421-018-3854-7
  3. Doolette, D. J. (2016). Venous gas emboli detected by two-dimensional echocardiography are an imperfect surrogate endpoint for decompression sickness. Diving Hyperb. Med. 46, 4–10.
  4. Cognasse, F., Hamzeh-Cognasse, H., Laradi, S., Chou, M.-L., Seghatchian, J., Burnouf, T., et al. (2015). The role of microparticles in inflammation and transfusion: a concise review. Transfus. Apher. Sci. 53, 159–167. doi: 10.1016/j.transci.2015.10.013
  5. Noh, Y., Posada-Quintero, H. F., Bai, Y., White, J., Florian, J. P., Brink, P. R., et al. (2018). Effect of shallow and deep SCUBA dives on heart rate variability. Front. Physiol. 9:110. doi: 10.3389/fphys.00110
  6. Appel, M. L., Berger, R. D., Saul, J. P., Smith, J. M., and Cohen, R. J. (1989). Beat to beat variability in cardiovascular variables: noise or music? J. Am. Coll. Cardiol. 14, 1139–1148. doi: 10.1016/0735-1097(89)90408-7
  7. von Känel, R., Nelesen, R. A., Mills, P. J., Ziegler, M. G., and Dimsdale, J. E. (2008). Relationship between heart rate variability, interleukin-6, and soluble tissue factor in healthy subjects. Bone 23, 1–7. doi: 10.1038/jid.2014.371
  8. Schirato SR, El-Dash I, El-Dash V, Bizzarro B, Marroni A, Pieri M, Cialoni D and Chaui-Berlinck JG (2020) Association Between Heart Rate Variability and Decompression-Induced Physiological Stress. Front. Physiol. 11:743. doi: 10.3389/fphys.2020.00743

 


Der Autor

Reilly Fogarty lebt in Neuengland, unterrichtet Rebreather-Tauchen und ist Kapitän mit Lizenz von der US-Küstenwache. Sein beruflicher Hintergrund umfasst Notfallmedizin, hyperbarische Forschung, großflächiges Risikomanagement im Bereich Tauchen, sowie Entwicklung und Management von Erste-Hilfe-Ausbildungsprogrammen. In der Vergangenheit arbeitete er am Duke Center for Hyperbaric Medicine and Environmental Physiology und als Risk Mitigation Team Lead für Divers Alert Network (US).


Der Übersetzer

Tim Blömeke unterrichtet Tech- und Sporttauchen in Taiwan und auf den Philippinen. Er ist Autor und freier Übersetzer, sowie Mitglied des Redaktionsteams von Alert Diver. Im Netz erreicht man ihn über seinen Blog und auf Instagram.


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