Foto: Marcello Di Francesco
Sonderbeiträge

Perspektiven für personalisierte Deko-Planung

Die Zukunft des Tauchens hängt davon ab, ob wir den Code der menschlichen Physiologie knacken können.

Alles, was zwischen dir und einem personalisierten Deko-Modell für deinen nächsten Tauchgang steht, sind… die Grenzen der Technik, Mangel an reproduzierbaren Daten, und das Fehlen eines wiederholbaren und modifizierbaren Algorithmus. Sprich, eine Menge.

Die harsche Realität ist, dass die besten Köpfe der Tauchmedizin ihre Karrieren damit verbracht haben, bahnbrechende und faszinierende Erkenntnisse zu entwickeln, die sich leider nicht nur in der realen Welt nicht anwenden lassen, sondern nicht einmal mit bisher indentifizierten physiologischen oder biologischen Messgrößen in Bezug gesetzt werden können.

Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass Dekompressionkrankheit (DCS) mit der Bildung von Gasblasen im Körper im Zusammenhang steht. Aktuelle Daten legen jedoch nahe, dass die Menge der Blasen allein nicht ausreicht, um vorherzusagen, ob jemand symptomatische DCS erleiden wird oder nicht.1

Das Wissen um wahrscheinliche Ursachen von DCS ist eine schwache Grundlage für Deko-Algorithmen. Doch es gibt weitere erschwerende Faktoren: Forscher haben Dutzende biometrischer Marker identifiziert in der Hoffnung, sie mit den Symptomen von DCS zu korrelieren – bisher ohne verlässliche Ergebnisse. Die Messung dieser Marker ist selbst unter Laborbedingungen schwierig. Während eines Tauchgangs ist sie unmöglich, und physiologische Marker werden in aktuellen Deko-Algorithmen nicht berücksichtigen.

Wenn wir die bestehenden, probabliistischen Dekompressionsmodelle hinter uns lassen wollen, brauchen wir Durchbrüche in den Ansätzen zur Modellierung, bei physiologischen Messwerkzeugen, und in unserem Verständnis der physiologie der Dekompression.

Der Sprung zu personalisierten Dekompressionsalgorithmen würde Durchbrüche in den Ansätzen zur Modellierung, der Entwicklung neuer Messwerkzeuge, und in unserem Verständnis der Physiologie der Dekompression erfordern – eine große Herausforderung. Dennoch besteht zumindest die Möglichkeit, dass ein einziger Durchbruch in der Forschung unser Verständnis der Dekompression komplett revolutionieren könnte. Diese Möglichkeit macht die Forschung so faszinierend.

Es folgt eine eingehendere Diskussion der personalisierten Modellierung von DCS, was wir wissen müssen, und welche Forschungsbereiche wir im Auge behalten sollten.

Warum personalisierte Dekompression (noch) nicht funktioniert.

Die Probleme mit der Modellierung der Dekompression beginnen bei den Grundlagen: unserem Verständnis von DCS selbst. Wir glauben, dass DCS durch Gasblasen verursacht wird. Es gibt jedoch keinerlei Daten, die eine gesicherte Korrelation zwischen Anzahl und Größe der Gasblasen und DCS unterstützen. Darüber hinaus gibt es eine Menge Forschungsergebnisse, die nahelegen, dass DCS nicht durch die Blasen selbst, sondern durch die Reaktion des Körpers auf diese Blasen verursacht wird.2 Solange wir also die verursachenden Mechanismen der DCS nicht verstehen, bleibt auch der beste Deko-Algorithmus eine ungefähre Risikoabschätzung auf Grundlage jahrzehntealter Studien. Im Wesentlichen tauchen die meisten von uns mit Algorithmen, deren Datengrundlage Experimente mit Ziegen vor über hundert jahren sind: Wenn die Ziegen den Tauchgang überleben, dann schaffst du das vermutlich auch.

Aktuelle Dekompressionsalgorithmen sind bestenfalls rudimentär und “gänzlich unfähig, die Vielzahl komplexer physilogischer und zeitlicher Faktoren zu betrachten, welche die Aufnahme und Abgabe von Gas und das effektive Risiko bestimmen,” sagt Dr. Neal Pollock, ein weltweit führender Experte in der Physiologie der Dekompression. “Deko-Algorithmen sind lediglich eine nützliche erste Annäherung zur Einschätzung des Risikos.”

Pollock rät Tauchern, Algorithmen als Grundlage zu nehmen und selbst konservative Anpassungen vorzunehmen, auf Grundlage von aktuellen Forschungsergebnissen und Erfahrungswerten, auch wenn dies zwangsläufig viel Mutmaßung und Abschätzung beinhaltet.

Die nächste Hürde für Forscher ist, eine Messgröße für das DCS-Risiko zu finden und Technologien zu entwickeln, mit denen diese Messgrößen in Echtzeit erfasst werden können. Personalisierte Dekompression beinhaltet zwangsläufig Messungen am Taucher selbst. Es ist jedoch gänzlich unklar, was genau gemessen werden sollte – Temperatur, epigenetische Marker, oder einer oder mehrere von dutzenden weiteren physiologischen oder biologischen Parametern. Diese sind faszinierend zu erforschen, doch schwer zu quantifizieren, und sie sind der für Taucher interessanteste Bereich des Konundrums.

Die Reduzierung des DCS-Risikos durch personalisierte Deko-Algorithmen steht also nicht unmittelbar bevor. Es besteht jedoch die sehr reale Möglichkeit, dass eine der laufenden Studien signifikante Entwicklungen in näherer Zukunft ermöglichen wird.

Faktoren mit Zukunft

Die Entwicklung von Algorithmen und neuen Messwerkzeugen ist interessant. Der wirklich faszinierende Aspekt in diesem Bereich ist jedoch die Erforschung von Messgrößen, welche ein echtes Verständnis der Mechanismen von DCS ermöglichen würden. Die Anzahl der möglichen Kanditaten ist unüberschaubar groß, und es ist unmöglich im Vorhinein zu wissen, welche (wenn überhaupt) letztlich einen Einblick in die Ursache unserer Neigung zur Blasenbildung geben werden. In einigen Bereichen scheint ein Durchbruch jedoch zum Greifen nah, und zwei dieser Bereiche sollte man in den kommenden Jahren genauer im Auge behalten:

Mikropartikel und Entzündungsreaktion

Eine zunehmende Zahl Studien legt nahe, dass ein Teil der durch DCS verursachten Schäden nicht durch mechanische Verletzungen infolge der Bildung von venösen Gasblasen (VGE) selbst verursacht wird. sondern durch im Zuge der Blasenbildung erzeugte Mikropartikel, sowie die Entzündungsreaktion des Körpers auf sowohl die Blasen selbst als auch die Mikropartikel.13,14. Die vorgeschlagenen Mechanismen der Partikelbildung und der Entzündungsreaktion und ihres Beitrags zum DCS-Risiko sind recht komplex und verdienen einen eigenen Artikel. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung findet sich in Decompression Illness: A Comprehensive Overview, einer 2024 von Dr. Simon Mitchell veröffentlichten Übersicht.

Die Mikropartikel und Proteine, die bei Entzündungen eine Rolle spielen (Zytokine), auf die sich diese Theorien konzentrieren, sind messbar – allerdings bisher nur im Labor und nicht in Echtzeit. Es braucht noch viel Forschungsarbeit an den Wechselwirkungen zwischen oxidativem Stress, Dekompression und zirkulierenden Mikropartikeln, bevor auf dieser Grundlage praktische Fortschritte erzielt werden könnten. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren mit bestehenden Daten macht dieses Thema jedoch zu einem, dem man in den kommenden Jahren besondere Aufmerksamkeit schenken sollte.

Blasenstudien

Jahrzehntelange Forschung hat venöse Blasen (VGE) und DCS miteinander verbunden, doch keine letztlich schlüssigen Ergebnisse geliefert. Eine aktuelle Studie der US NEDU (Navy Experimental Diving Unit) und der Universität Auckland könnte jdas Ende der Verbindung zwischen VGE-Belastung und DCS-Symptomen geliefert haben. Die Forscher führten mit 151 Tauchern insgesamt 693 Tauchgänge durch und analysierten nach jedem Tauchgang die Blasenbildung. Das Ergebnis ist ein Datensatz von für dieses Forschungsgebiet einzigartiger Größe. Er deutet stark darauf hin, dass die Variabilität der Blasenmenge so groß ist, dass sie Blasenzählungen untauglich zur Beurteilung von Dekompressionsprofilen macht. Selbst bei bei identischen Tauchprofilen desselben Tauchers fällt die Blasenbildung so unterschiedlich aus, dass der VGE-Grad möglicherweise keinerlei sinnvolle Korrelation zu DCS aufweist.

Dieses Ergebnis stellt den Forschungsstand zum Thema Tauchen in gewissem Maße infrage, doch es bedeutet nicht das Ende der Blasenstudien. Forscher des Divers Alert Network (DAN) haben kürzlich eine Datenerhebung im Zuge eines vierjährigen Projekts abgeschlossen, das darauf abzielt, die Variabilität der VGE-Belastung zu quantifizieren. Dabei wurden unter anderem Parameter wie Herzfrequenzvariabilität, Herzzeitvolumen, Blutdruck, Speichelproben zur Erfassung von Entzündungsmarkern, sowie Blutproben zur Mikropartikelanalyse untersucht. Die Auswertung der Daten hat gerade erst begonnen. Kurzfristig konzentriert sich die Analyse auf die Korrelation zwischen DCS-Risikofaktoren und Blasenzahl. Die Teilnehmergruppe bleibt erhalten, um auch Anschlussstudien zu ermöglichen.

Blick in die Zukunft

Trotz des Umstands, dass ein großer Teil dieser Forschung auf bisher unbewiesenen Mechanismen der DCS beruht und die erforderliche Technologie sowie die Biomarker noch nicht vollständig entwickelt sind, gibt es Anlass zum Optimismus – auch wenn es noch Jahre dauerm wird, bis uns Technologien zur Verfügung stehen, mit denen zumindest einige dieser theoretischen Marker sinnvoll erfasst werden können. Angesichts der Vielzahl an Möglichkeiten in diesem Forschungsfeld ist es jedoch schwer, sich der Faszination zu entziehen.

Personalisierte Dekompression mag noch keine Realität sein. Die Hürden auf dem Weg sind aber zumindest bekannt, und brillante Forscher und Taucher haben deren Überwindung zu ihrem Lebensinhalt gemacht. Wer jetzt neugierig geworden ist, mehr über aktuelle Forschungsprojekte wissen und vielleicht sogar helfen möchte, kann unter https://www.daneurope.org/de/tauchmedizinische-forschung mehr erfahren.

Eine längere Version dieses Artikels wurde im Magazin InDEPTH in englischer Sprache veröffentlicht.


Zitierte Werke

  1. Doolette, D; Murphy, G (2023) Within-diver variability in venous gas emboli (VGE) following repeated dives. 
  2. Mitchell, Simon J (2024) Decompression Illness: A comprehensive review. PMID: 38537300

Weitere Lektüre


Der Autor

Reilly Fogarty lebt in Neuengland, unterrichtet Rebreather-Tauchen und ist Kapitän mit Lizenz von der US-Küstenwache. Sein beruflicher Hintergrund umfasst Notfallmedizin, hyperbarische Forschung, großflächiges Risikomanagement im Bereich Tauchen, sowie Entwicklung und Management von Erste-Hilfe-Ausbildungsprogrammen. In der Vergangenheit arbeitete er am Duke Center for Hyperbaric Medicine and Environmental Physiology und als Risk Mitigation Team Lead für Divers Alert Network (US).


Der Übersetzer

Tim Blömeke unterrichtet Tech- und Sporttauchen in Taiwan und auf den Philippinen. Er ist Autor und freier Übersetzer, sowie Mitglied des Redaktionsteams von Alert Diver. Im Netz erreicht man ihn über seinen Blog und auf Instagram.

Artikel herunterladen

Ähnliche Artikel

Sonderbeiträge

Sollte ich zuerst DAN oder den Rettungsdienst anrufen?

Wen sollte man bei einem Tauchnotfall zuerst benachrichtigen? Der Kontext zählt. „Wen sollte man bei Verdacht auf Dekompressionserkrankung zuerst anrufen, den Rettungsdienst oder zuerst DAN...

23 Mai 2025
Sonderbeiträge

Tauchsafaris und Sicherheit: eine Analyse aktueller Trends

Wir sichten aktuelle Unfallstatistiken und sprechen über Lücken in Wartung und Ausbildung, damit Taucher gut informierte Entscheidungen treffen können 2019 was das schlimmste Jahr in...

30 April 2025
Sonderbeiträge

Daten verstehen: die DAN-Unfallstatistik

Ein Kommentar zum DAN-Jahresbericht zeigt, wie Fehler beim Tauchen, Ausrüstungsprobleme und Nachlässigkeit in Gesundheitsfragen zu Unfällen beitragen. Außerdem werden Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischen Verletzungsrisiken und zur...

23 Dezember 2024

Tauchen Sie in die
neuesten Geschichten ein,
bevor es andere tun.

Abonnieren Sie den
Alert Diver
Newsletter.