Differenzialdiagnose
Die Taucherin
Die Taucherin ist 51 Jahre alt und in guter gesundheitlicher Verfassung. Im vergangenen Jahr wurden zwei ihrer Halswirbel (C5 und C6) in einer als Laminektomie bezeichneten Operation behandelt.
Sie litt in der Vergangenheit gelegentlich unter Migräne-Kopfschmerzen. Kurz zuvor hatte sie geschwollene Schleimhäute im Nasennebenhöhlenbereich, weshalb sie ein rezeptfreies, schleimhautabschwellendes Mittel einnahm. Weitere physische oder medikamentöse Beeinträchtigungen lagen nicht vor. Sie ging nicht häufig tauchen, sie unternahm etwa einmal pro Jahr eine Tauchreise.
Die Tauchgänge
Am fünften Tag ihres Urlaubs machte sie zwei Tauchgänge; am Tag zuvor hatte sie nicht getaucht, sich ausgeruht und Sehenswürdigkeiten besichtigt. Der erste Tauchgang des Tages war ein Multilevel-Tauchgang auf maximal 21 Meter und dauerte eine Stunde und 15 Minuten. Die Oberflächenpause danach betrug eine Stunde. Die Taucherin unternahm anschließend einen weiteren Multilevel-Tauchgang auf 21 Meter, der etwa eine Stunde dauerte. Bei diesem letzten Tauchgang legte sie einen fünfminütigen Sicherheitsstopp auf 4,5 Meter ein.
Während der Tauchgänge gab es keine Vorkommnisse, aber sie erwähnte, dass sie während der Endphase beider Tauchgänge ziemlich ausgekühlt war. Mehr als die Hälfte des jeweiligen Tauchgangs blieb sie oberhalb von 21 Metern.
Die Komplikationen
Die Taucherin beendete ihren zweiten Tauchgang gegen 13 Uhr. Kurz danach bemerkte sie, dass sie allmählich in einen Zustand ungewöhnlicher Erschöpfung kam, denn die Tauchgänge selbst waren nicht weiter anstrengend gewesen. Gleichzeitig kamen Kopfschmerzen auf, die an beiden Flanken des Kopfes auftraten, also nicht wie bei ihrer Migräne oder anderen Kopfschmerzen, die sie zuvor erlebt hatte.
Sie kehrte zu ihrem Hotel zurück, das in einer Höhe von 762 über Meeresniveau lag, und legte sich für eineinhalb Stunden schlafen. Sie war immer noch sehr abgeschlagen und äußerte, sie fühle sich einfach ’neben sich‘ an diesem Abend. Schon um zwanzig Uhr war sie im Bett und schlief bis zum nächsten Morgen durch, was sie als nicht normal für sich bezeichnete.
Sie wachte am nächsten Morgen mit einer immer noch so großen Abgeschlagenheit und geistigen Trägheit auf. Im Laufe des Tages entwickelten sich zeitweise auftretende Schmerzen in den Knien, die eine Zeit lang anhielten und dann wieder vollständig verschwanden. Ihre Kopfschmerzen hatten zwar nachgelassen, nachdem sie die Nacht durchgeschlafen hatte, aber am Abend des nächsten Tages wurden sie wieder stärker. Sie sagte, sie fühlte sich, als ob sie eine Grippe oder einen Schnupfen bekäme.
Wegen der ungewöhnlichen und anhaltenden Symptome rief ihr Tauchpartner an diesem Abend schließlich DAN an. Zu diesem Zeitpunkt bestritt die Taucherin, irgendwelche weiteren Gelenkbeschwerden, Schmerzen, Taubheits– / Kribbelgefühle oder körperlichen Schwächeerscheinungen zu verspüren
Die Behandlung
DAN überwies die Taucherin hauptsächlich aus zwei Gründen an das örtliche Krankenhaus:
- Es ist schwierig, derartige Symptome über das Telefon einzuschätzen; und
- uneinheitliche oder unklare Symptome nach dem Tauchen sollten von direkt von einem Mediziner untersucht werden.
Nachdem sie von einem Arzt untersucht worden war, lautete die Diagnose auf eine Virenerkrankung (Influenza); sie erhielt schleimhautabschwellende Medikamente und ein Schmerzmittel gegen ihre Kopfschmerzen.
Das Ergebnis
Bei der Untersuchung hatte sich der Zustand der Schleimhäute in den Nebenhöhlen, mit dem die Taucherin ja bereits angereist war, weder verschlechtert noch verbessert. Während der Krankheitsphase nach den Tauchgängen hatte sie zu keinem Zeitpunkt Fieber, und ihre Symptome klangen innerhalb der nächsten drei bis vier Tage langsam ab. Die Symptome der Taucherin glichen denen einer Dekompressionserkrankung (DCI), aber sie konnten ebenso von einer Viruserkrankung herrühren. Die Taucherin gab an, dass der untersuchende Arzt ihre zuvor unternommenen Tauchgänge nicht mit in Erwägung gezogen hatte.
Nachbesprechung
Wie viele Taucher würden wohl meinen, dass diese Symptome möglicherweise von einer DCI verursacht worden wären? Würden manche vielleicht stattdessen annehmen, dass diese Beschwerden ganz einfach mit einer langen und aktiven Urlaubswoche zu tun hätten, die mit einer bereits vorhandenen Nasenschleimhautschwellung begonnen hatte?
Wahrscheinlich würden sich die meisten Taucher ähnlich verhalten wie diese Taucherin: Ein Nickerchen machen, zu Abend essen, früh ins Bett gehen und sich ausschlafen; und wenn es wirklich nicht besser werden sollte, DAN anrufen. Mit diesem diagnostischen Problem müssen sich viele Ärzte herumplagen.
Vorübergehende Kopfschmerzen auf beiden Seiten, periodisch auftretende Schmerzen in den Knien, übermäßige Erschöpfung und ein mentaler Zustand, einfach neben sich zu sein, passen nach dem Tauchen zu einer DCI, sind aber kein Beweis dafür. Das Dilemma des Arztes besteht darin, die zweifelhaften Symptome dem Tauchprofil, und damit einer möglichen DCI, oder aber irgendeinem andere Gesundheitsproblem zuzuschreiben.
Schmerzen sind das häufigste Erstsymptom einer DCI und sollten gründlich untersucht werden. Periodisch wiederkehrende Gelenkschmerzen treten häufig nach Anstrengungen auf, u. a. nach dem Gerätetauchen, wenn Muskeln anders belastet werden als bei normalen Tätigkeiten des Alltags.
Bei einer DCI geht von den Gasblasen im Allgemeinen eine konstante Druckwirkung aus, Gewebeschädigungen und Schmerzen infolge einer DCI treten deshalb eher nicht periodisch wiederkehrend auf. Solche durch eine DCI verursachte Schmerzen verändern sich normalerweise nicht bei Bewegung oder anderen äußeren Einflüssen, sie werden oft als ‚anders‘ oder ‚ungewöhnlich‘ beschrieben.
Die meisten Menschen hatten schon einmal eine Grippe; die mit einer Virenerkrankung verbundenen Schmerzen kommen ihnen daher eher bekannt vor. Durch Virenerkrankungen hervorgerufene Gelenkschmerzen können konstant sein und bei Bewegungen zunehmen. Man kann sich nun leicht vorstellen, wie schwierig es ist, die Schmerzen voneinander zu unterscheiden.
Die zweiseitigen Kopfschmerzen könnten durchaus von einem Barotrauma der Nebenhöhlen hervorgerufen werden, möglicherweise aufgrund des Tauchens mit den bereits angeschwollenen Nasenschleimhäuten.
Die Taucherin beschrieb diesen Kopfschmerzen anders als alle, die sie zuvor erlebt hatte; das machte sie verdächtig, aber sie mussten nicht unbedingt von einer DCI stammen. Die DANDaten zu DCI-Fällen besagen, dass in 10 bis 20 Prozent der Beobachtungszeiträume Kopfschmerzen auftraten.
Veränderungen des mentalen Zustands sind nur schwer zu erfassen, solange sie nicht als schwerwiegende Anzeichen manifestieren, z. B. Bewusstseinsverlust, Anfälle oder die Unfähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Diese Zustände sollten von allen Tauchern als Zeichen mentaler Störungen erkannt werden, die unter Umständen mit einer DCI zusammenhängen. Sich ’neben sich‘ fühlen ist ein subjektives Symptom und schwer einzuschätzen. Die meisten Symptome (60 %) einer DCI treten innerhalb der ersten zwei Stunden nach einem Tauchgang auf. In diesem Fall gewann der untersuchende Arzt den Eindruck, die Symptome der Taucherin beruhten auf einer Viruserkrankung: Sie fühlte sich im Laufe von drei Tagen zunehmend besser, und keines der Symptome trat erneut auf. Derart zweifelhafte Fälle erreichen DAN jede Woche, und wir geben uns die größte Mühe, den Ärzten vor Ort dabei zu helfen, alle Details des Tauchens und der Symptomentstehung herauszufiltern.
Taucher müssen jedes nach dem Tauchen auftretende Symptom mit Argwohn betrachten. Machen Sie sich beim Tauchen vor ihrem geistigen Auge Notizen über alle ungewöhnlichen Ereignisse oder Symptome, die Sie während des Tauchens oder danach bemerken. Lassen Sie es auch Ihren Tauchpartner wissen, und holen Sie eine weitere Meinung dazu ein, sobald Sie wieder oben sind. Und denken Sie daran, Symptome können auch nach bis zu 24 Stunden auftreten. Sorgen Sie früh vor: Rufen Sie DAN an, sobald Sie auch nur den leisesten Verdacht haben.
Denken Sie abschließend einmal darüber nach, wie Sie tauchen: Wenn Sie versuchen, die maximal mögliche Tauchzeit aus ihrer Flaschenfüllung zu bekommen, sollten Sie dies mit anderen Sicherheitsfaktoren wieder ausgleichen. Die einfachste Strategie lautet, tauchen Sie nicht so tief, und verlängern Sie Ihre Oberflächenpausen.