Gegenseitiger Respekt

Vor der entlegenen Insel Guadeloupe findet regelmäßig eine anderung statt, die erst seit wenigen Jahren erforscht wird. Die Weißen Haie (Carcharodon carcharias) wandern vorbei, während sie großen Thunfischschwärmen, ihrer Lieblingsnahrung, folgen.
Auf Reisen zum Fotografieren der Weißen Haie in den Jahren 2002 und 2003 konnte kein Mitglied meiner Gruppe einen Raubtierangriff auf eine dieser Robbenarten (Pinnipedia oder Flossenfüßer wegen der Form ihrer Flossen) beobachten.
Paul «Doc» Anes, ein Pionier aus dem Meer 70 # 47 (1st Quarter 2012) 71 des Haitauchens in Guadeloupe sagt, er wurde seit 2000, also seit Beginn dieser Expeditionen, noch nie Zeuge eines Raubtierangriffes.
„Einmal haben wir aber gesehen, wie ein Weißer Hai einen Vogel gefressen hat“, fügt er hinzu.

Theorien, warum keine Angriffe stattfinden
Es existieren zahlreiche Theorien, warum die Haie diese fettreiche Nahrung nicht angreifen, von der sie sich an anderen Orten, zum Beispiel in der Nähe der Farallon Islands westlich von San Francisco und in False Bay an der Küste Südafrikas, etwa 30 Minuten von Kapstadt entfernt, gewöhnlich ernähren. Auf früh morgendlichen Bootsausflügen vor Simon’s Town an der Kaphalbinsel Südafrikas können Besucher spektakuläre Angriffe von Haien beobachten, die ihre Beute „im Flug“ oder in knapper Entfernung zur Wasseroberfläche erfassen. Dieses Phänomen wurde auch in der beliebten TV-Dokumentation „Air Jaws“ des Discovery Channel festgehalten. Im trüben Wasser bildet sich eine „Todeszone“, die die Robben überqueren müssen, um in tieferes Gewässer zu gelangen. Das ist die Gelegenheit für die Haie, zuzuschlagen. Angriffe auf unerfahrene Jungtiere, die sich zum ersten Mal ins offene Meer wagen, wurden oft dokumentiert. Anes, Besitzer von San Diego Shark Diving Expeditions Inc. im kalifornischen San Diego, hat wohl schon mehr Zeit mit der Beobachtung von Haien und der Leitung von Ausflügen nach Guadeloupe verbracht als irgendeine andere Person. Er leitet sein Geschäft seit 1993 und hat seitdem zahllose Expeditionen nach Guadeloupe organisiert. Anes sieht mehrere Möglichkeiten, warum die Weißen Haie vor Guadeloupe die Robben an diesem speziellen Ort nicht anzugreifen scheinen. Die Sicht, die oft 24-30 Meter beträgt, eliminiert das Überraschungsmoment, das die Weißen Haie gewöhnlich für ihre Angriffe nutzen. Wie die Raubkatzen in der afrikanischen Steppe können es sich diese Tiere nicht leisten, unnötig Energie auf mehrere erfolglose Angriffe zu verschwenden. Angriffe auf Robben in anderen Gebieten zielen meist auf Jungtiere ab, die noch wenig Erfahrung haben und Feinde noch nicht erkennen oder vermeiden können.
Anes ist der Meinung, dass viele Haie bereits weiterziehen, bevor die jungen See-Elefanten sich das erste Mal ins Meer begeben, um auf Nahrungssuche zu gehen. Dr. Michael Domeier, Präsident und leitender Direktor des Pfleger Institute of Environmental Research im kalifornischen Oceanside hat fast 20 Weiße Haie vor Guadeloupe mit Geräten zur  atellitenverfolgung und Beobachtung markiert. Seine Daten lassen darauf schließen, dass die Haie ungefähr im Januar weiter in den mittelozeanischen Bereich hinaus ziehen, sogar bis nach Hawaii. Während seine Untersuchungen weiter laufen, berichtet er bereits, dass keine räuberischen Angriffe auf gesunde Robben aufgezeichnet werden konnten.
Jessie Harper hat in Zusammenarbeit mit Domeier Daten über die Touren von San Diego Shark Diving zu den Weißen Haien vor Guadeloupe gesammelt. Zusammen mit Anes haben sie mehr Zeit mit der Beobachtung von Weißen Haien zugebracht, als irgendwer sonst. „Wenn Angriffe stattgefunden hätten, dann hätten wir längst einen gesehen”, so Anes. Der Biologe Dr. Burney J. LeBoeuf erforscht seit 25 Jahren die See-Elefanten. In seinem 1985 erschienen Buch über diese Tiere erklärt er, dass die Jungtiere der See-Elefanten von Mitte Dezember bis Januar geboren werden und sich, nachdem sie nicht mehr von der Mutter genährt werden, für zwei bis drei Monate von gespeichertem Fett ernähren. Es kann also sein, dass die jungen Robben sich erst im Mai ins offene Meer begeben, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Weißen Haie längst weiter gezogen sind. Eine persönliche Begegnung Im Jahr 2003 führte ich eine Gruppe von Tauchern bei einer Haitauchexpedition vor der Insel Guadeloupe. Dort beobachteten wir den wie wir dachten ersten räuberischen Angriff eines Weißen Haies auf einen Seelöwen in dieser Gegend. Ein männlicher Seelöwe, den man leicht an der kronenartigen Erhebung an seinem Kopf erkennen kann, näherte sich unserem vor Anker liegenden Boot, um das große Thunfischköpfe trieben, mit denen wir die Haie zu den Käfigen locken wollten. Er war anscheinend hungrig und wollte unsere Haiköder fressen, wie er uns immer und immer wieder demonstrierte. Unsere  „Köderverteidiger“ (so nannten wir die Männer, die für die Fischköpfe zuständig waren) hatten kein leichtes Spiel, die Thunfischköpfe von diesem aufdringlichen Seelöwen fernzuhalten. Wir waren uns sicher, dass der Seelöwe auf seinem nachmittäglichen Fischzug jede Minute selbst verspeist werden würde, da sich aus der Ferne immer mehr Weiße Haie näherten. Wir waren uns alle einig, dass uns das Tier eine gute Show lieferte: Er trieb faul an der Oberfläche, ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen und wartete offensichtlich darauf, sich ein paar frische Fischköpfe schnappen zu können. Immer wenn ein Hai auftauchte, schwamm er in aller Seelenruhe davon, wobei ihm wohl völlig klar war, dass der Hai auf den gleichen Leckerbissen aus war wie er. Einmal wurde der Seelöwe von einem etwa 03 Meter langen Weißen Hai aufgeschreckt, der den Schwanz des Tieres leicht anstupste. Er hat ihn nicht gebissen. (Weiße Haie können auch von anderen Weißen Haien oder ihrer Beute gebissen werden und sind dann oft nicht mehr in der Lage zu jagen oder sich zu ernähren.) Der Stoß, den wir sahen, kam von einem jungen männlichen Hai, der wohl versuchte, seinen Konkurrenten loszuwerden.
Anes sagt, dass Beobachter vor Guadeloupe schon gesehen haben, wie Seelöwen im Wettkampf um die Fischköpfe in die Schwanz- oder Rückenflossen der Weißen Haie gebissen haben. „Sie streiten mit den Weißen Haien genauso um ihr Fressen, wie sie es mit jedem anderen Konkurrenten machen würden“, so Anes. „Es scheint als würde das Raubtier verstehen, dass es keinen Sinn macht, ein solch wachsames, vorsichtiges Tier anzugreifen.“
„Im großen Teich geht es darum, für möglichst geringen Energieaufwand eine möglichst große Menge von Nahrung (Kalorien) zu erhalten. Einen flinken Seelöwen zu verfolgen ist im klaren Wasser von Guadeloupe die reinste Verschwendung wertvoller Energie. Nur im trüben Wasser nahe der Küste, wo die Weißen Haie und Robben nebeneinander existieren, haben die Weißen Haie eine bessere Chance, an Nahrung zu gelangen.“ Je länger wir uns vor Guadeloupe befanden, umso klarer wurde uns, dass es sich hier wohl um einen Fall von gegenseitigem Respekt handelte. Der Seelöwe wusste, dass er im klaren Wasser dem Hai leicht entkommen konnte. Der Hai schien den Seelöwen als lästiges Hindernis zu sehen, das ihn von seinem leckeren Sushi abhielt. Erst wenn drei oder mehr Haie auftauchten und um die Köder kämpften, machte sich der kleine Kerl auf ans Ufer, um eine Pause einzulegen.
Manchmal belohnt uns die Natur mit wirklich verblüffenden und aufschlussreichen Erfahrungen

Über den Autor

Das DAN-Mitglied Dave Haas ist ein Tauchabenteurer, dessen Erlebnisse schon in vielen Publikationen der Tauchbranche sowohl in Schrift als auch im Bild festgehalten wurden.
(www.haasimages.com).

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