Sind Gewebehalbwertzeiten real?

Bei Zusammenkünften von Tauchern hört man in Diskussionen über das Thema Dekompression oft Äußerungen wie, "es gibt in der Physiologie keine wirklichen Gewebehalbwertzeiten, diese stellen lediglich ein mathematisches Konzept dar." Das ist aber so nicht richtig. Halbwertzeiten sind bei Vorgängen als real anzunehmen, ob Sie nun das Alter von Dinosaurierknochen bestimmen oder wissen wollen, wie schnell Wirkstoffe Ihren Körper wieder verlassen. Eine der vielen Substanzen, von denen experimentell mittels Halbwertzeiten bestimmt wurde, wie schnell sie Ihren Körper wieder verlässt, ist das Gas Stickstoff, und zwar nach Ihren Tauchgängen.

Einige reale Halbwertzeiten
Radioaktivität: Eine radioaktive Substanz verliert in einem bestimmten Zeitraum die Hälfte ihrer Masse bzw. ihrer Radioaktivität. Nach einem weiteren, ebenso langen Zeitraum wird nur noch die Hälfte der verbliebenen 50 Prozent übrig sein. Im Englischen hat sich gleichermaßen der Begriff ‚half-life‘ als nützlich erwiesen, um die Zeitspanne zu beschreiben, die die Hälfte der Masse einer Substanz ‚überlebt‘. Er ist synonym mit dem Begriff Halbwertzeit, also lediglich eine andere Bezeichnung. Man kann nicht vorhersagen, wann ein bestimmter Atomkern zerfallen wird, aber die Geschwindigkeit des Abbaus, die Halbwertzeit einer bestimmten Masse ist präzise und real.
Die Halbwertzeiten unterschiedlicher Radioisotope weichen deutlich voneinander ab. Künstlich hergestellte Radioisotope haben oft äußerst kurze Halbwertzeiten im Bereich von Mikrosekunden. Natürliche Radioisotope haben Halbwertzeiten von bis zu einigen Milliarden Jahren. Halbwertzeiten natürlicher Radioisotope sind wertvoll bei der Bestimmung archäologischer Funde und dem geologischen Alter von Fossilien, Gestein und der Erde selbst. Diese Vorgehensweise bezeichnet man als Radiometrische Altersbestimmung.

Wirkstoffe: Der Abbau von Medikamenten verläuft ebenfalls nach dem Muster der Halbwertzeiten. Unser Körper benötigt eine vorhersagbare Zeitspanne, um die Hälfte einer festgelegten Standarddosis abzubauen. In der Pharmakologie spricht man ebenso von dieser Zeitspanne als von der Halbwertzeit eines Medikaments. Die Halbwertzeit variiert ein wenig je nach Individuum, aber ein allgemein gültiger Rahmen lässt sich schon abstecken.
Valium hat beispielweise bei jungen Menschen eine Halbwertzeit von etwa 44 Stunden (bei älteren länger, bei einigen Menschen aber auch kürzer). 44 Stunden nach der Einnahme einer Dosis von 5 mg sind also immer noch 2,5 mg im Körper. Wenn jemand täglich Valium einnimmt, wird sich die Konzentration so lange erhöhen, bis die tägliche Wirkstoffzufuhr genauso groß ist wie die Fähigkeit des Körpers, ihn wieder abzubauen. Dies nennt man einen ‚Steady-State‘, einen eingepegelten Zustand. Der Pegel fällt erst, wenn die Person das Medikament absetzt, was zu Entzugserscheinungen führt. Die einzelnen Körperteile reagieren unterschiedlich auf den Wirkstoff, die Zeit bis zum Erreichen des Steady-State (bei dem die Konzentration nicht weiter steigen kann) sowie die Zeit, bis die Hälfte des Wirkstoffs abgebaut / entsorgt ist, variieren entsprechend. Allgemein steigen und fallen Konzentrationen
in Blut und Plasma schneller als in Fett.
Übereinstimmend äußern auch Taucher häufig, dass Fett bei der Dekompression problematisch sei, da es mehr Stickstoff aufnehme. Aber es nimmt Stickstoff auch langsamer auf als alle anderen Körperbestandteile. Fett wird also zu einem festgelegten Zeitpunkt während eines Tauchganges weniger Stickstoff aufgenommen haben, es hat eine längere Halbwertzeit. Man hört ebenso häufig, dass vernarbtes Gewebe Probleme verursacht, da Gas nur schwer wieder aus diesen Geweben herauskommt. Aufgrund der langen Halbwertzeit können Gase aber ebenso schwer zuvor dort eindringen. Ob dies nun zu Problemen führt oder diese verhindert, ist noch nicht abschließend geklärt.

Was ist nun mit den Halbwertzeiten von Stickstoff?
Wenn Sie den Abbau von Radioaktivität oder Valium visuell darstellen wollen, müssen Sie lediglich nach jedem Zeitintervall, in dem sich die radioaktive Strahlung oder die Valiumkonzentration auf die Hälfte verringert hat, einen Punkt auf Millimeterpapier eintragen. Diese Zeitspanne ist die Halbwertzeit. Wenn Sie die Punkte verbinden würden, erhielten Sie eine Kurvenform, die charakteristisch für Halbwertzeiten ist. Die Gleichung, die eine solche Kurvenlinie beschreibt, wird als exponentiell bezeichnet. Was würde herauskommen, wenn Sie entsprechende Punkte für den Stickstoff eintragen würden, der den Körper des Tauchers verlässt?

Eine reale Halbwertzeit für Stickstoff. Sie könnten die von einem Taucher ausgeatmete Luft in einer Tüte sammeln oder sie direkt in ein Analysegerät leiten und messen, wie viel Stickstoff er im Laufe der Zeit abatmet. Das beschreibt mehr oder weniger, wie eine Messung der gesamten Stickstoffauswaschung aus dem Körper veranschlagt wird. Wenn Sie diese gesamte Stickstoffauswaschung aus dem Körper grafisch darstellen würden, würde eine Kurvenlinie dabei herauskommen. Die Kurve entspricht dabei der Summe vieler einzelner Exponentialgleichungen.
Individuelle Gewebehalbwertzeiten. Die Kurvenlinien, die aus Messungen der Gesamtheit der Stickstoffauswaschung entstehen, sagen wie die meisten Summengleichungen nicht mehr viel über die Einzelfaktoren aus. Sie sagen nichts darüber aus, wie viel oder wenig Stickstoff in jeden einzelnen Ihrer Körperbereiche gelangt ist. Die verschiedenen Strukturen unseres Körpers nehmen Stickstoff mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf und geben ihn auch entsprechend wieder ab. Dass dabei unterschiedlich hohe Stickstoff[partial]drücke in den verschiedenen Teilbereichen auftreten, scheint Auswirkungen zu haben. Einige Körperbereiche könnten relativ wenig Stickstoff aufnehmen. Zu hohe Stickstoffdrücke in irgendwelchen anderen Körperpartien, verursacht durch zu tiefes, zu langes Tauchen oder durch zu schnelles Aufsteigen, können der Anfang von Problemen bei der Dekompression sein.
Evidenz in Theorie und Praxis. Schnelle Ausstiege aus Unterseebooten, Tunnelarbeiten und längere, experimentelle Dekompression nach regulären Presslufttauchgängen zeigten, dass bestimmte Gewebe den Stickstoff schneller abgeben als andere, wodurch man schnellere und langsamere Stickstoffhalbwertzeiten für einzelne Körperbereiche identifizieren konnte. In den meisten Geweben sind die Diffusionsabstände gering. Wenn die Diffusionsabstände zwischen Kapillaren gering sind, ist das Gewebe ‚gut durchgerührt‘, und der Gasaustausch in dem Gewebe wird mit den Halbwertzeiten hinreichend genau beschrieben. Man fand ebenso heraus, dass die Berücksichtigung weiterer Halbwertzeiten, die die entsprechenden Körpergewebe repräsentieren, die Prognosen für die Sicherheit von Dekompressionstabellen näher an die tatsächlichen Ergebnisse heranbringt. Die meisten Dekompressionsmodelle verwenden heute nicht mehr nur eine Halbwertzeit, um den gesamten Körper abzubilden.

Nicht nur Zahlen
Bei den U.S. Navy Tabellen wurde die große Zahl möglicher Halbwertzeiten der Einfachheit halber auf Gruppen von Minutenwerten reduziert, z. B. 5, 10, 20, 40, 60, 80, 90, 100 und 120 Minuten. Andere Modelle verwenden andere Minutenwertgruppen.
Halbwertzeiten sind tatsächlich Zahlen. Aber diese Zahlen beschreiben, was in Ihrem Körper vor sich geht, sie sind nicht nur Konzepte. Zahlen sind ein einfaches Hilfsmittel, um mathematisch etwas zu beschreiben, das biologisch kompliziert ist. Und sie sind zudem viel praktischer, als hinter Tauchern her zu rennen und Punkte zu Papier zu bringen.
Parallele Gasauswaschung. Der Stickstofftransport in den Geweben mag den Anschein erwecken, als ob er sich nach einem einfachen, mathematischen Muster verhielte, aber stimmt das wirklich so? Nicht alle Systeme nehmen Stoffe exponentiell auf und geben sie entsprechend wieder ab. Stickstoff mag unter kontrollierten Bedingungen exponentiell aufgenommen und abgegeben werden, aber Faktoren in der Praxis und Dinge, die Sie während des Tauchens tun, werden die Berechnungen verändern. Man glaubt, dass die Halbwertzeit in erster Linie durch den Blutfluss bestimmt wird. Die Löslichkeit von Gasen in den Geweben und im Blut ist ebenso von Bedeutung. Anstrengung und Temperaturwechsel während des Tauchgangs haben großen Einfluss auf den Blutfluss. Die Temperatur beeinflusst zudem die Löslichkeit von Gasen.

Das Konzept, nach dem alle Ihre Körperkompartimente unabhängig voneinander, aber gleichzeitig Stickstoff abgeben, bezeichnet man als ‚parallele Gasauswaschung‘. Sehr wahrscheinlich verhält es sich so, dass nicht sämtliches Gas parallel, separat aus allen Körperkompartimenten, zurück in den Blutstrom gelangt, um anschließend abgeatmet zu werden. Wenn ein Bereich mit höherem Stickstoff[partial]druck sich neben einem mit geringerem Druck befindet, wird sich Stickstoff vom hohen zum niedrigeren Druck bewegen und bewirkt so eine serielle Gasauswaschung, aus einem Gewebe in ein anderes. Serieller Transfer wurde bereits bei Arzneimitteln beobachtet. Außerdem gibt es eine Differenz zwischen der Zeit, die ein Stoff in den Körper hinein benötigt, und der Zeit, die er wieder heraus braucht.
Eine weitere wichtige Tatsache ist, dass Taucher in der Praxis sehr kreativ darin sein können, wie sie Regeln und Richtlinien auslegen. Sie kommen dadurch in Situationen, die einen normalen und erklärbaren Stickstofftransport aus dem Ruder bringen; sie ‚vermasseln‘ es gewissermaßen. Das hat Bedeutung für die Praxis.

Bedeutung für die Praxis
Halbwertzeiten sind die Basis für Berechnungen von Tauchzeitgrenzen, die, neben anderen Dingen, darauf beruhen, dass im Körper gelöster Stickstoff entsorgt wird, und nicht Stickstoff, der bereits wieder gasförmig ist, bevor Sie ihn abatmen können. Wenn sich Gasblasen bilden, beruht der Stickstoffaustausch nicht länger auf Halbwertzeiten. An dieser Stelle fallen die meisten Dekompressionsmodelle in sich zusammen. Manchmal können Gasblasen die Entsorgung von Stickstoff unterstützen, aber wenn sich erst einmal Blasen in Ihrem Körper gebildet haben, können diese die Entsorgung weiteren Stickstoffs durch mechanische und chemische Vorgänge andererseits auch behindern.

Was können Sie tun, um Probleme mit der Gasblasenbildung zu reduzieren oder zu verhindern?

  1. Langsame Aufstiegsgeschwindigkeit
  2. Sicherheitsstopps
  3. Das Herz-Kreislauf System fit halten
  4. Die Stickstoffaufnahme begrenzen

Zusammengenommen können diese Maßnahmen den Unterschied ausmachen: Entweder hat Ihr Körper genügend Zeit, den überschüssigen Stickstoff auszuwaschen, bevor er sich zu Blasen formiert, oder aber Sie gestatten Ihrem Körper, sich mit ‚Stickstoffgranaten‘ zu füllen.

Halbwertzeiten sind real
Haben Sie nun tatsächlich ein 60-Minuten-Kompartiment, ein 5– oder ein 120-Minuten-Kompartiment? Sehr wahrscheinlich haben Sie Körpergewebe, die die Hälfte der Stickstoffbelastung in 5, 60 oder 120 Minuten aufnehmen bzw. abgeben. Natürlich stellen diese Bereiche nicht ein komplettes Organ wie Ihr Herz oder Ihren Magen, aber es wird vergleichbare Gewebe überall in Ihrem Körper geben. Wir verfügen noch nicht über ein vollständiges Beschreibungsmodell über die Art und Weise, wie der Stickstoff unseren Körper verlässt. Wir können die Dekompressionskrankheit deshalb auch nicht komplett verhindern. Aber Halbwertzeiten sind real.

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