Turtle Islands Marine Park

Ein quirliges Gewirr, ein schaufelnder Schwarm – von Schildkröten. So lassen sich die Haufen von Jungtieren, die über den Sand krabbeln, am besten beschreiben. Diese Mini-Reptile haben etwas unglaublich Niedliches an sich.

Meine erste Frage ist: „Woher wissen sie im Dunkeln, wo das Wasser ist?“ „Sie bewegen sich immer in Richtung des Lichts am Horizont“, erzählt mir der Ranger. Um diese Theorie zu testen richte ich den Schein meiner Taschenlampe auf ein paar Krabbler, die sich umdrehen und dem Strahl folgen. Die Ranger sammeln sie mit Eimern ein und tragen sie hinunter zum Meer. Mit etwas Hilfe kann ihre Reise nun losgehen. Ich besuche gerade den Turtle Islands Marine Park, vor der Küste von Sabah en Malaysia, und lerne etwas über die Aufzucht von Meeresschildkröten. Der Park verfolgt zwei Ziele: zum einen, Daten zu sammeln und die örtliche Schildkrötenpopulation zu studieren, zum anderen, das Überleben dieser uralten Reptile zu unterstützen. Zu diesem Zweck hat die malaysische Regierung verfügt, dass auf den Inseln Selingaan, Gulisan und Bakkungan Kecil vor der Nordostküste Sabahs ein Schutzgebiet für diese Tiere errichtet wird. Man erklärt mir, dass diese Inseln nur Teil einer ganzen Inselkette sind, die von Sabah bis in die südlichen Philippinen reicht. 1996 taten sich Malaysia und die Philippinen als Zeichen internationaler Kooperation zusammen, um diese hauptsächlich aus der Grünen Meeresschildkröte oder Suppenschildkröte (Chelonia mydas) bestehende Kolonie durch die Errichtung der Turtle Islands Heritage Protected Area (TIHPA) zu schützen.

Auf Eiersuche
Um etwa 22 Uhr signalisiert der Ranger mir und drei anderen Gästen, dass es nun an der Zeit ist. Er weist uns an, ruhig zu sein, und nichts zu tun, was das Nisten stören könnte. Dem Guide folgend gehen wir den Strand entlang, bis wir Spuren entdecken, die aus dem Meer kommen: Sie sehen aus, als wären sie von einem großen Fahrzeug gemacht worden. Wir folgen den Spuren über den Strand bis zu den Bäumen, bleiben stehen und horchen. Jetzt können wir das leise Geräusch des schweren Atems einer Schildkröte ausmachen. Wir bleiben nah bei unserem Guide und sehen eine nistende Schildkröte, die Sand zu Seite schaufelt und eine flache Grube aushebt. Für einen Moment ruht sich die Mutterschildkröte in der Sandgrube aus. Doch dann beginnt sie wieder mit ihren Hinterflossen den Sand Häufchen für Häufchen beiseite zu schaffen und eine vertikale Kammer von etwa einem halben Meter Tiefe auszuhöhlen. Als sie nach stetigem Graben mit der Tiefe zufrieden ist, fängt sie an, ihre Eier im Nest abzulegen. Zuerst nur eines nach dem anderen, aber dann etwas schneller, zwei oder drei Eier gleichzeitig.
Der Ranger greift in das Nest und holt etwas heraus, das aussieht wie ein Tischtennisball. Das Ei ist etwa genauso groß und hat eine ähnliche Farbe. Die Haut ist dick und erinnert an Pergament. Während die Mutter weiter ihre Eier ablegt nimmt der Ranger sie vorsichtig heraus und legt sie in einen Eimer. Die Schildkröte scheint den Diebstahl nicht zu  bemerken.
Das Weibchen legt 94 Eier in einer Stunde ab und macht dann einige Minuten Pause. Der Ranger nutzt diese Gelegenheit, um zu überprüfen, ob sie eine nummerierte Markierung an ihrer Flosse trägt und notiert sich die Nummer. Dann nimmt die Mutter die Arbeit mit ihren Hinterflossen wieder auf, schaufelt Sand in das Loch und wischt zum Abschluss mit ihren langen Vorderflossen über das Nest, womöglich um es vor Raubtieren zu tarnen. Eine weitere Minute sehen wir ihr in stiller Bewunderung zu und ziehen uns zurück, während sie ihre Arbeit vollendet. In etwa zwei Wochen kommt sie vielleicht wieder, um ein weiteres Gelege abzulegen und kehrt dann für mehrere Jahre nicht zurück.
Wir folgen unserem Guide zum Brutplatz etwa 15 Meter oberhalb der Flutlinie und sehen ihm zu, wie er die Eier  orsichtig in ein vorbereitetes Nest legt.
Jedes Nest ist etwa 75 cm tief und von einem Drahtzaun umgeben, der Raubtiere fern halten soll. Auf einem Etikett werden Datum, Anzahl der Eier und eine individuelle Identifikationsnummer vermerkt. Das Gelege wird in 45 bis 60 Tagen zu schlüpfen beginnen. Die früher geschlüpften Tiere bleiben unter dem Sand versteckt, bis ihre Geschwister ebenfalls bereit sind. Dann krabbeln sie wie auf Befehl – vielleicht aufgrund der kühleren Temperatur des Sandes nach Sonnenuntergang – aus dem Nest und machen sich schnell auf in Richtung Meer.

Fakten – und Rätsel
Die Gefahr beginnt für eine Schildkröte bereits bevor sie geschlüpft ist. Warane graben die Eier aus und fressen sie und Ameisen können die Nester zerstören. Andere, in der Nähe nistende Schildkröten beschädigen unbeabsichtigt bereits bestehende Nester. Sind die Eier einmal freigelegt, sind sie ein gefundenes Fressen für Seevögel oder trocknen in der heißen Sonne aus. Und Wilderer können ein gesamtes Nest auf einen Schlag auslöschen. Aus all diesen Gründen nehmen die Ranger die Eier aus ihren Nestern und bewahren sie in der geschützten Umgebung der Brutanlage auf.
Nach wie vor sind viele Dinge über die Wasserschildkröten noch nicht bekannt. Ich frage den Ranger: „Wie ist das Verhältnis von Männchen und Weibchen bei den geborenen Jungtieren?“ Er sagt, die Temperatur scheint bei der Frage, ob es ein Männchen oder ein Weibchen wird, eine große Rolle zu spielen. „Nester unter Schatten spendenden Bäumen oder Nester, die tiefer in den Sand gegraben sind, bringen gewöhnlich mehr männliche Tiere hervor“, erklärt er. Selbst die Jahreszeit scheint Auswirkungen zu haben: in den kühleren Monaten des Jahres werden deutlich mehr Männchen verzeichnet. Der Ranger sieht sich die Markierung unserer Mutterschildkröte an. „Sie wurde das erste Mal hier auf Pulau Selingaan am 10. Oktober 2003 markiert, kam 16 Tage später zurück und legte nochmals 114 Eier“, sagt er. Wir fragen uns, ob sie wohl dieses Jahr auch wieder kommen wird. Da es schwierig ist, die Wasserschildkröten zu erforschen, sobald sie das offene Meer erreicht haben, existieren noch viele offene Fragen. Man begann vor 50 Jahren damit, die Tiere mit Metalletiketten zu markieren. Diese werden auch heute noch verwendet, werden aber oft durch Radiotransmitter oder Satellitentechnik ergänzt.
Dank dieser Geräte erhalten die Wissenschaftler umfassendere Daten über Dinge wie Migrationsmuster und die Aufenthaltsdauer der Schildkröten unter Wasser.
Mit den modernen Möglichkeiten der DNS-Proben können Wissenschaftler nun belegen, dass Mütter zum Gebären an den Ort zurückkehren, an dem sie geboren wurden. Die Daten sagen uns außerdem, dass Schildkröten Tausende von Meilen umherziehen. Wie erinnern sich also die Weibchen an den Ort, an dem sie geboren wurden?
Jeder Strand ist doch irgendwie gleich, oder?
Bei der Antwort sind sich die Forscher nicht einig, aber einige Theorien besagen, dass die Schildkröten einem bestimmten, einzigartigen Geruch folgen, ähnlich wie ein Pheromon, das einen Strand vom anderen unterscheidet.
Eine andere Theorie nimmt an, dass die Tiere über einen körpereigenen Kompass und eine magnetische Landkarte in ihrem Gehirn verfügen, auf der ihr Geburtsort gespeichert ist.
„Warum sehen wir beim Tauchen nur ausgewachsene Schildkröten?“ frage ich. Unser Guide erklärt mir, dass die Forschung nicht genau weiß, wo sich die Babyschildkröten aufhalten. „Man hat ihren Weg vom Strand ins offene Meer über 24 Stunden lang verfolgt“, erklärt er, „aber darüber hinaus können wir einfach noch nichts sagen. Wir wissen, dass sie, wenn sie etwas größer als tellergroß sind, wieder näher am Land gesehen werden.“ Man geht davon aus, dass die Tiere ihre Kindheit – etwa drei bis sieben Jahre – weit draußen auf offener See verbringen.
Ich habe heute Nacht viel gelernt, aber ich habe noch zwei abschließende Fragen. „Mit welchem Alter beginnen Schildkröten sich fortzupflanzen? Und wie ist ihre Überlebensrate?“ Die Antworten auf diese Fragen sind ausschlaggebend, wenn es um das Überleben dieser Spezies geht. Die Wissenschaft geht davon aus, dass je nach Spezies, eine Schildkröte erst im Alter von 10 bis 25 Jahren mit der Fortpflanzung beginnt. Das bedeutet,dass eine Schildkröte eine lange Zeit überleben muss, bevor sie zum Fortbestand ihrer Spezies beitragen kann.
Leider ist die Antwort auf die Frage nach der Überlebensrate noch inhaltsschwerer. Die Wissenschaft geht davon aus, dass nur eines von 1.000 Jungtieren das fortpflanzungsfähige Alter erreicht.

Die Zukunft
Sechs, manche sagen auch sieben Arten von Wasserschildkröten leben in den Weltmeeren. Außer der Wallriffschildkröte sind sie alle bei Umweltschutzorganisationen wie dem World Wildlife Fund als äußerst gefährdete oder gefährdete Tierarten gelistet.
Internationale Kooperation ist für das Überleben der Schildkröten von großer Bedeutung, da Wasserschildkröten durch die Gewässer vieler verschiedener Länder ziehen. Örtliche Zusammenarbeit ist ebenfalls wichtig, da die Gemeinschaften und Organisationen vor Ort diejenigen sind, die die Nistplätze schützen und das Wildern verhindern können. Und auch jeder Einzelne kann einen einfachen Beitrag leisten, zum Beispiel indem man Müll von den Stränden sammelt, weniger Produkte verwendet, die schädliches Abwasser verursachen und keine Produkte kauft, die aus Schildkröten hergestellt wurden. Diese Dinge können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, ob die Schildkröte, die vor 65 Millionen Jahren das Aussterben der Dinosaurier überlebt hat, heute auch das Unwissen und die Gleichgültigkeit der Menschen überlebt.
Meeresschildkröten sind Reptilien, die in allen tropischen Gegenden der Welt zuhause sind. Beinahe alle weltweit existierenden Arten können in nordamerikanischen und karibischen Gewässern gefunden werden. Dazu gehören die Grüne Meeresschildkröte oder Suppenschildkröte (Chelonia mydas), die Echte Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata), die Atlantik-Bastardschildkröte (Lepidochelys kempii), die Lederschildkröte (Dermochelys coriacea), die Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta) und die Oliv-Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea). Die Wissenschaft ist sich uneinig darüber, ob eine siebte Gattung existiert. Die Schwarze Suppenschildkröte (Chelonia agassizii oder Chelonia mydas agassizii) wird manchmal als eigene Gattung, manchmal als Untergattung der Suppenschildkröte und manchmal überhaupt nicht als separate Gattung anerkannt. Bei der australischen Wallriffschildkröte, die erstmals 1880 erwähnt wurde, wird nach wie vor diskutiert, ob sie als eigene Gattung oder Untergattung gezählt werden soll.

Einrichtungen im Turtle Islands Marine Park

Selingaan Island ist nur eine der malaysischen Turtle Islands, die der Öffentlichkeit für Aufenthalte über Nacht zugänglich gemacht wurden. Auf der Insel befindet sich die Parkverwaltung, ein kleines Besucherzentrum, die Brutstation und seit kurzem mehrere Hütten zum Übernachten und ein kleines Restaurant. Die am nächsten gelegene Stadt am Festland ist Sandakan, etwa eine Stunde per Speedboot entfernt und bekannt für ihr Orang-Utan- Rehabilitationszentrum.

Über das Team

Elizabeth Cook ist freiberufliche Fotojournalistin und technische Redakteurin. Wenn sie nicht gerade beim Tauchen oder Unterwasserfotografieren in Südostasien oder vor der Küste Kaliforniens unterwegs ist, lebt sie in San Diego. Elizabeth ist bereits seit zehn Jahren ein engagiertes DAN-Mitglied.

Robert Yin
ist ein freiberuflicher Fotojournalist und DAN-Mitglied aus San Diego. Er taucht hauptsächlich in den tropischen Gewässern des Pazifiks. Seine Aufnahmen sind bereits in zahlreichen Büchern und Tauchmagazinen erschienen. Er ist Autor von 24 Büchern der Reihe „Marine Life for Young Readers“ sowie des Bildbands „Beneath Philippine Seas“.

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