Verspätete Rekompression

Die effektivste Behandlungsmethode bei durch Gasbläschen nach der Dekompression verursachten Dekompressionskrankheiten (DCS) und arteriellen Gasembolien (AGE) ist die Rückführung des Patienten in eine Umgebung mit erhöhtem Druck. Das nennt man Rekompression. Idealerweise kann ein Patient innerhalb weniger Minuten nach dem ersten Auftreten der Symptome rekomprimiert werden – die Bläschen würden schnell vernichtet und die Symptome verschwinden. Das ist manchmal bei Berufs- und Militärtauchern der Fall.  Selbst wenn vor Ort eine Druckkammer vorhanden ist, so dauert es beim Sporttauchen jedoch für gewöhnlich eher Stunden als Minuten bis die Rekompressionsbehandlung beginnt. Wenn es vor Ort keine Kammer gibt, was oft der Fall ist, dann kann es Tage bis zur Rekompression dauern. Für Taucher, die sich an abgelegenen Orten befinden, ist es wichtig zu wissen, wie genau sich Verspätungen bei der Rekompression auf ihre vollständige Genesung auswirken.  Bei der Beantwortung dieser Frage ist es auch wichtig, die einzelnen Schritte zu untersuchen, die man zur Risikominimierung unternehmen kann. Da die verfügbaren Daten keine einfachen Antworten liefern, bitten wir Fachleute um Rat. 

 

Wie wird festgelegt, wie schwer ein DCS-Notfall ist?

Dr. Jordi Desola: Die Schwere der DCS entscheidet über die Schwere des DCS-Notfalls. Bei ernsten Fällen sind mehrere Organsysteme betroffen und Durchblutung, Atmung und Bewusstsein können beeinträchtigt sein. Solche Fälle können zu dauerhaften Behinderungen oder auch zum Tod führen.

Dr. Karen Van Hoesen: Die folgenden Antworten repräsentieren die kollektive Meinung der Ärzte des University of California San Diego (UCSD) Hyperbaric Medicine Center. Die Ansichten basieren auf einer Prüfung der Literatur zum Thema sowie auf unserer kollektiven und über 30jährigen Erfahrung bei der Behandlung von Tauchern mit DCS. Generell entscheiden über die Schwere eines DCS-Notfalls: 1) die Zeit vom Tauchgang bis zum Auftreten der ersten Symptome, 2) eine kardiopulmonale Instabilität und 3) schnell fortschreitende neurologische Symptome. Je eher nach einem Tauchgang neurologische Symptome auftreten (motorische und zerebelläre Symptome und Veränderungen der psychischen Verfassung, und nicht nur sensorische Defizite), desto schwerer ist der DCS-Schub.  Alle Hinweise auf kardiopulmonale Instabilität bei einer DCS deuten auf einen wirklichen Notfall hin. Neurologische Symptome, die sehr schnell auftreten und schnell fortschreiten deuten ebenso auf eine schwere DCS hin und sollten als Notfall interpretiert werden.  Arterielle Gasembolien mit neurologischen Symptomen sind echte Notfälle und sind bei den folgenden Antworten nicht gemeint.

Angenommen es sind bereits sechs Stunden nach dem Eintreten der ersten Symptome vergangen. Wie viel länger kann es dann Ihrer Ansicht nach bis zur Rekompression dauern ohne dass dies einen Einfluss auf den Ausgang einer DCS hat?

Van Hoesen: Auf der Basis der Informationen einiger weniger Fallberichte und Daten lässt sich sagen, dass es den Anschein hat, dass es eine Gruppe moderater bis schwerer DCS-Fälle gibt, bei denen eine frühzeitige Behandlung innerhalb von sechs bis zwölf Stunden einen positiven Einfluss auf den Ausgang der DCS haben kann. Die DCS-Patienten dieser Gruppe sind jedoch nicht klar definiert. Die oben beschriebenen schweren Fälle sind möglicherweise Teil dieser Untergruppe. Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche DCS-Fälle, die selbst nach einer erheblichen Verzögerung der Behandlung (über 24 Stunden) noch Besserungen zeigen.

Desola: Ich habe über 30 Jahre lang in Barcelonas Überdruckeinheit gearbeitet und mehrere Hundert schwerere und weniger schwere DCS-Fälle mit kürzeren und längeren Verzögerungen behandelt. 1977 begannen wir eine Prospektivstudie um zu erforschen, was den Ausgang einer behandelten DCS beeinflusst. Die erste Analyse von 466 Fällen wurde 1997 vorgestellt und zeigte, dass Verzögerungen bei Rekompressionen unerheblich waren.  Drei Jahre und noch mehr Fälle (554) später stellte eine umfassende statistische Analyse fest, dass klinische Ergebnisse bei der Prognose von DCS-Folgen die wichtigsten Faktoren darstellen. Unsere Ergebnisse waren nicht beliebt, denn sie widersprachen den damals gängigen Ansichten. Seitdem wurden sie von mehreren Berichten anerkannter Überdruckzentren bestätigt. Eine kürzlich durchgeführte Retrospektivstudie der französischen Marine fand heraus, dass 25 Prozent der Taucher mit DCS innerhalb eines Monats komplett genesen waren obwohl es eine kurze Verzögerung bis zur Rekompression gegeben hatte (durchschnittlich 35 Minuten).  Längere Verzögerungen schienen das Risiko einer unvollständigen Genesung nicht erheblich zu erhöhen. Für den positiven Ausgang einer schweren DCS ist die Qualität der kombinierten Behandlung von entscheidender Bedeutung: medikamentöse Therapie, aggressive Rehydrierung, hyperbare Sauerstofftherapie und eine intensivstationäre Behandlung innerhalb der Kammer falls nötig.

Können Verzögerungen bei der Rekompression unterschiedliche Auswirkungen auf schwere und leichte DCS haben?

Desola: Die Erfahrung zeigt, je schwerer die Anzeichen oder Symptome, desto schlechter die Prognose, egal wie lange es bis zur Rekompression dauert. Man nahm an, dass schwerere Fälle komplett genesen könnten wenn sie innerhalb der ersten paar Minuten rekomprimiert würden. Das ist jedoch nur selten möglich, nicht einmal beim Militär oder bei Berufstauchern und niemals beim Sporttauchen. Andererseits kommt es bei den meisten leichteren Fällen zur vollständigen Genesung egal wie spät die Rekompression einsetzt.

Rein intuitiv gesprochen muss die Rekompression so bald wie möglich stattfinden, im Rahmen rationaler lokalen Einschränkungen. Das ist es, was Tauchern immer gesagt werden sollte. Wir wissen heutzutage jedoch von vielen Tauchern, die sich zufriedenstellend erholt haben, obwohl sie erst Stunden oder sogar Tage nach dem Eintreten von Symptomen eine hyperbare Sauerstofftherapie (HBOT) erhielten. Dem gegenüber stehen DCS-Fälle, die schlecht ausgingen, obwohl sie innerhalb weniger Stunden nach dem Eintreten der Symptome behandelt wurden.

Van Hoesen: Das kann sein. Wie erwähnt gibt es vermutlich eine Gruppe Patienten mit schwereren DCS, denen es dank einer frühen Behandlung besser geht. Es entspricht dem natürlichen Verlauf einer leichten DCS, dass sie tendenziell abklingt, egal wie lange es bis zu ihrer Behandlung dauert. HBOT sollte nach wie vor die Standardbehandlung für alle DCS-Fälle sein.

In Anbetracht des erhöhten Unfallrisikos aufgrund außerplanmäßiger Flügen – welche Bedingungen muss ein Patient Ihrer Ansicht nach erfüllen, damit er per Flugrettung statt per Linienflug oder Überlandtransport evakuiert wird? 

Van Hoesen: Jeder DCS-Fall muss für sich betrachtet werden und sollte mit einem DAN-Mediziner oder einem beratenden Arzt besprochen werden.  Jeder der die oben beschriebenen Kriterien einer schweren DCS erfüllt sollte ein Kandidat für die Evakuierung per Flugrettung sein. Ein Überlandtransport kann bei Personen mit leichten DCS, die nur Schmerzen haben, angemessen sein. Abhängig von der jeweiligen Situation kann bei einer leichten DCS, bei der es nur zu Schmerzen gekommen ist, auch das Fliegen mit einem kommerziellen Linienflug die beste Wahl sein.

Desola: Wenn die Lebensfunktionen des Tauchers stabil sind und keine lebensbedrohlichen Komplikationen zu erwarten sind, dann kann er mit einem Linienflug in einem regulären Flugzeug transportiert werden. Hierzu zählen Fälle von Haut- und Muskel-DCS, leichte neurologische DCS und sogar DCS des Rückenmarks mit unvollständigen Läsionen, bei denen nur die Mobilität bzw. die Sensibilität der Gliedmaßen beeinträchtigt ist, die Blase oder der Darm jedoch nicht gelähmt sind. Der Patient muss stabil sein. Außerdem muss der Patient vor dem Transport rehydriert sein und während des Transports Sauerstoff atmen. In Fällen von Lungen-Barotraumata mit Pneumomediastinum oder Pneumothorax sollten Taucher nicht an Bord eines regulären Flugzeuges transportiert werden, da das Risiko besteht, dass es bei einer weiteren Ausdehnung des Gases in ihrer Brust zu lebensgefährlichen Beschwerden kommt.

Was sollten Taucher, die nicht ohne erhebliche Verzögerungen eine Überdruckkammer erreichen können, tun bis es soweit ist?

Desola: Das ist eine schwierige Frage. Eine detaillierte und vollständige Bewertung der Situation per Telefon oder Videokonferenz ist unentbehrlich.  Das Verfahren ist abhängig davon wie schwerwiegend die Verletzung des Tauchers laut dieser Bewertung dann ist.

Nicht lebensgefährlich verletzte Taucher

Verletzte Taucher, die stabil sind und deren Symptome nicht schlimmer sind als Muskelschmerzen, Erschöpfung, marmorierte Haut oder Empfindungsbeeinträchtigungen in einer Extremität, können als nicht lebensgefährlich verletzt eingestuft werden.  Diese Patienten dürfen keine schweren Symptome wie Darm- oder Blasenlähmungen haben.

Falls vorhanden sollten ein lokaler Arzt oder eine lokale medizinische Einrichtung zur Untersuchung und Bewertung des Tauchers kontaktiert werden.

Falls es vor Ort keine medizinische Hilfe gibt sollte eine ausführliche Bewertung per Telefon erfolgen.

Vorausgesetzt der Taucher ist bei Bewusstsein, dann sollte ihm Sauerstoff gegeben werden und er sollte oral rehydriert werden. Falls nötig kann auch die Gabe eines Anxiolytikums bzw. eines Schmerzmittels in Erwägung gezogen werden.

Eine Evakuierung per Flug sollte mit dem ersten verfügbaren kommerziellen oder privaten Flugzeug organisiert werden. Der Patient sollte zu einer Überdruckeinrichtung transportiert werden, die die angemessene medizinische Hilfe leisten kann.  Die Überdruckeinrichtung sollte sich in einem Krankenhaus befinden. Es ist demnach möglich, dass es sich nicht um die am nächsten gelegene Druckkammer handelt.

Mit der an ein Krankenhaus angeschlossenen Überdruckeinrichtung muss telefonisch Kontakt aufgenommen werden.

 Lebensgefährlich kranke oder verletzte Taucher

Dies trifft auf die Fälle zu, bei denen die Blase gelähmt ist, der Patient unter Schock steht (niedriger Blutdruck, Hämokonzentration und Hypovolämie), mögliche Bewusstseinsveränderungen oder Atemversagen. Hierzu zählen schwere Fälle von DCS und AGE, die durch Lungenbarotraumata und nicht-tödliches Ertrinken verursacht wurden.

Bestätige die Diagnose und bewerte die Schwere des klinischen Leidens des Tauchers neu.

Überführe den schwer verletzten Taucher in das Krankenhaus, das am nächsten liegt und das eine professionelle Diagnose sowie die richtige Notfallversorgung gewährleisten kann, selbst wenn eine Überdruckkammer mit einem erfahrenen Überdruckmediziner näher sein sollte.

Im Krankenhaus wird ein Arzt die notwendigen Notfallverfahren einleiten um das Überleben des Patienten sicherzustellen. Der DAN-Notfalldienst muss angerufen werden (+39 06 42118685) und eine Entscheidung muss getroffen werden, wie am besten bezüglich einer Überdruckbehandlung verfahren werden soll. In einigen Fällen, wenn es der Zustand des Patienten zulässt, kann das auch bedeuten, dass er per Luftrettung ins nächste angemessene Krankenhaus evakuiert wird.

Van Hoesen: Taucher mit einer DCS sollten, falls vorhanden, Oberflächensauerstoff atmen.  Wenn der Taucher bei Bewusstsein ist, wach und alert, sollte er Flüssigkeit zu sich nehmen und gut hydriert bleiben. Wenn Schmerzen das einzige Symptom sind, kann ein nichtsteroidales entzündungshemmendes Medikament wie Ibuprofen oder Naxopren eingenommen werden. Der Taucher sollte keinen Alkohol zu sich nehmen. Unterlassen Sie Rekompressionsversuche im Wasser.

HINWEIS: Unabhängig von den hier geäußerten Meinungen sollte jeder DCS-Fall individuell mit dem medizinischen Personal von DAN besprochen werden. Nur so können die richtige Diagnose und Behandlung sowie falls nötig eine Evakuierung sichergestellt werden.  Darüber hinaus beziehen sich diese Meinungen auf Fälle bei Sporttauchern und sind nicht auf technische Taucher oder Taucher mit Gasgemischen, Berufstaucher oder Sättigungstaucher übertragbar. 

 

Dezember 2013

Lerne die Experten kennen

Dr. Jordi Desola, M.D., Ph.D., ist Leiter der Überdrucktherapie-Abteilung des Rotkreuz-Krankenhauses in Barcelona (Katalonien, Spain). Seine Fachgebiete sind die Innere Medizin, Arbeits- und Sportmedizin. Er ist Professor für Tauch- und Überdruckmedizin an der Universität von Barcelona, Mitbegründer von DAN Europe und permanentes Mitglied des Lenkungsausschusses des European Committee for Hyperbaric Medicine (ECHM). 2005 war er Vorsitzender und Präsident des 15. Internationalen Kongresses für Überdruckmedizin (ICHM). Außerdem ist er Tauchlehrer und Pilot.

Dr. Karen Van Hoesen, M.D. ist Direktorin des Tauchmedizinischen Zentrums der University of California San Diego (UCSD) und des "Undersea and Hyperbaric Medicine" Stipendienprogramms. Sie ist klinische Professorin für Notfallmedizin im UCSC Gesundheitssystem und hat zahlreiche Abhandlungen und Kapitel zu Tauch- und Überdruckmedizin verfasst. Sie ist aktive Taucherin und eine der Ärztinnen, die DAN auf Abruf beraten.

Artikel herunterladen

Tauchen Sie in die
neuesten Geschichten ein,
bevor es andere tun.

Abonnieren Sie den
Alert Diver
Newsletter.