Sonderbeiträge
In the Wildnis: Tauchen jenseits der eigenen Genzen
Weisheit: Wie war der Tauchgang? Der erste nach dem Tauchschein – das war bestimmt aufregend, oder?
Leichtsinn: Oh Mann … Das Wrack und der Maschinenraum am Boden der Treppe… legendär!
Weisheit: Ich dachte, in der Gegend, gibt es nur tiefe Wracks? Und wie kam es, dass du im Inneren des Wracks gelandet bist?
Leichtsinn: Ich weiß, das war ziemlich unerwartet. Ich bin einfach dem Divermaster gefolgt. Die Sicht wurde irgendwann schlecht, ich habe mich in ein paar Kabeln verfangen und wurde dann ziemlich nervös, als meine Luft knapp wurde. 40 Meter, da geht das ziemlich schnell. Ich hatte keine Ahnung! Zum Glück war da dieser Typ, dessen Lampe plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Er holte mich raus, ich weiß nicht genau wie…
Weisheit: Meine Güte! Wo waren denn der Divemaster und die anderen Taucher?
Leichtsinn: Nee, wir waren nur zu zweit! Ich hab extra gezahlt für die VIP-Tour. Ich habe ihn auf dem Oberdeck wiedergesehen, gerade rechtzeitig, so dass er mir seinen Oktopus geben konnte, hahaha.
Weisheit: Bist du verrückt geworden?
Leichtsinn: Ach, komm, jetzt sei mal nicht so spießig! Ich hab gehört, es gibt auch noch eine ziemlich coole Höhle da unten?
Wenn wir die Highlights unserer Tauchkarriere Revue passieren lassen, erinnern sich die meisten von uns an mindestens einen Vorfall, bei dem wir uns fragen: Was ist da gerade passiert? Was hätte passieren können? Was hätte ich tun sollen?
Dankenswerterweise haben wir es bis an die Oberfläche geschafft, so dass wir in der Lage sind, uns diese Fragen zu stellen. Der schlimmste Fall ist nicht eingetreten – dieses Mal, jedenfalls. Manche Leute neigen allerdings dazu, Ereignisse nicht zu hinterfragen, bei denen wir über unsere Grenzen hinaus gegangen sind – aus Unwissenheit, vielleicht aber auch aus Stolz, oder weil wir einfach nicht darüber reden wollen.
DIE EIGENEN GRENZEN
Die Grenzen eines Tauchers hängen von zwei Hauptfaktoren ab, die miteinander verbunden sind: Das Brevet und die eigene Komfortzone. Beide hängen von Ausbildung und Erfahrung ab. Ein Brevet ist keine Rettungsweste, aber wenn ein Taucher jenseits der Grenzen seiner Ausbildung taucht, macht er einen Schritt ins Unbekannte – eine aufregende Gefahrenzone.
Die Tauchausbildung beruht nicht zuletzt auf der Analyse von Unfällen. Sie stellt uns eine Reihe an kognitiven Protokollen zur Verfügung – Reaktionen auf potentielle Probleme während eines Tauchgangs. Sie ist ein bewährter Prozess, der uns in die Lage versetzt, Probleme zu lösen. Sie gibt außerdem die Ausrüstung vor, die wir für diese Maßnahmen brauchen.
Ein Führerschein qualifiziert uns nicht als Rennfahrer. Wir haben lediglich ein paar Stunden damit verbracht zu lernen, andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden und den Kontakt mit Bäumen zu vermeiden. Das Gleiche gilt für die Tauchausbildung. Sie besagt erst einmal nicht viel, und für größere Tiefen, Pflicht-Deko, Tauchen in geschlossenen Räumen und im Kaltwasser ist weiteres Training erforderlich.
Die Tauchausbildung schafft eine Komfortzone innerhalb der Grenzen der Brevetierung, und durch weitere Übung lernen wir in diesem Rahmen unsere eigenen psychologischen und körperlichen Grenzen kennen. Manche Menschen werden dabei herausfinden, dass Tauchen nicht ihr Ding ist und dieses Hobby aufgeben. Daran ist nichts auszusetzen – gamz im Gegenteil. Andere Taucher entwickeln sich Schritt für Schritt weiter und bauen Erfahrung auf, bevor sie den nächsten Kurs machen. Die Unglücklichen sind diejenigen, die zwischen diesen beiden Ansätzen landen und sorglos ins Unbekannte aufbrechen. Nur durch Erkenntnis unserer Grenzen können wir uns weiterentwickeln und die Konturen des für uns Möglichen neu definieren.
DIE LETZTE VERSUCHUNG DES TAUCHERS
Taucher, die absichtlich ihre Grenzen überschreiten, tun dies entweder auf der Suche nach einem imaginären heiligen Gral, der sie die Werte ihrer Ausbildung vergessen lässt, oder im blinden Vertrauen auf einen Divemaster oder Tauchlehrer, der ihnen unter Berufung auf sein angeblich höheres Wissen und seine Erfahrung Unsterblichkeit verspricht, solange sie ihm nur folgen.
Die Versuchung durch verbotene Früchte ist eine Konstante der menschlichen Natur. Die Furchtlosen machen sich auf den Weg ins Unbekannte, mal mit, mal ohne den Einfluss eines Mentors oder Tauchpartners. Die Motivation ist normalerweise entweder intern, z. B. Neugierdie, oder extern, z. B. Gruppendruck. Man möchte kein Feigling oder Spielverderber sein. Meistens sind sich solche Taucher bewusst, dass sie hier eigentlich nichts verloren haben. Dieses Bewusstsein kann helfen, die Risiken teilweise zu reduzieren. In anderen Fällen macht die psychologische Belastung die Sache noch schlimmer, und potentielle Risiken werden zu tatsächlichen Unfällen.
Wenn die Grenzüberschreitung unabsichtlich erfolgt, werden die Grenzen schlicht überschritten – bedingt entweder durch Unwissenheit oder schlichte Dummheit. Die Unwissenheit erstreckt sich auf den bei Ankunft an der Tauchbasis ungelesen unterzeichneten Haftungsausschluss. In diesem wird häufig auf eine gültige Unfallversicherung verwiesen, welche zwar keine Unfälle verhindert, aber im Überlebensfall die Konsequenzen mildert. Fehlverhalten kann auch auf professioneller Seite vorliegen, wenn ein Divemaster den Ausbildungsstand seiner Kunden nicht kennt oder weniger erfahrene Taucher in einer Gruppe an ihre Grenzen bringt, um die erfahreneren Taucher nicht unzufrieden zu machen. Trinkgeld kann hier schlechte Anreize schaffen, denn die meisten Taucher wollen vor allem eins: Spaß.
Die Organisation von gefühten Tauchgängen in Gruppen liegt häufig in der Hand von Tauchbasen. Geschäft ist Geschäft, und häufig ist es am kostengünstigsten, einen Divemaster mit einer gemischten Gruppe loszuschicken. Der Auftrag des Divemasters ist, die Kunden zufrieden zu machen. Noch wichtiger aber ist, dass er die Tauchbasis zufrieden macht, so dass er seinen Arbeitsplatz behält. Diese Anreize schaffen Risiken für alle Beteiligten. Taucher sind sich dieser Risiken meist nicht bewusst und gehen entspannt ihrer Leidenschaft nach, ohne sich Sorgen zu machen oder viele Fragen zu stellen. Das einzig Gute an dieser Unwissenheit ist, dass die Kunden keiner zusätzlichen Belastung durch Stress ausgesetzt sind – solange alles glatt läuft, jedenfalls.
WER WIND SÄT…
Einstellung spielt auf dem Weg eines Tauchers eine wichtige Rolle. Das Eingeständnis, dass ein Tauchgang nicht so gelaufen ist, wie man sich das vorgestellt hat, erfordert Mut zur Ehrlichkeit sich selbst und seinen Tauchpartnern gegenüber. Wenn alle wieder sicher an Land sind, muss jemand den Anfang machen und sagen, dass dieser Tauchgang nicht okay war. Nur so kann eine konstruktive Diskussion beginnen.
Vorsicht ist besser als Reue, aber auch Reue hat ihren Nutzen – sie hilft dabei, begangene Fehler nicht zu wiederholen. Ja, dieses kleine Wrack sah von außen harmlos aus. Ja, manche Taucher wollen unbedingt große Zahlen auf ihrem Comuter sehen. Und ja, diese Höhle war atemberaubend schön. Aber was hat das alles für einen Wert, wenn die Sache schief läuft und man erkennen muss, dass man der Situation nicht gewachsen ist, weder als Person noch als Team? Wie ein gewisser, für die Formel E=mc2 bekannter Wissenschaftler einmal sagte: “Sobald wir unsere Grenzen akzeptieren, gehen wir über sie hinaus.”
Weisheit: Wie war der Tauchgang? Der erste nach dem Tauchschein – das war bestimmt aufregend, oder?
Einsicht: Oh Mann, ich bin so dumm. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einließ. Der Divemaster sagte beim Briefing etwas von einem Wrack und einem Maschinenraum, aber in meiner Vorstellung sah das alles ganz anders aus. Es war auch etwas tiefer als auf meiner Karte steht, aber das schien für niemanden ein Problem zu sein, und alle erzählten davon, wie toll dieses Wrack ist. Ich wollte es einfach sehen.
Weisheit: Und was ist dann passiert?
Einsicht: Ich bin dem DM gefolgt, aber der schwamm dann ins Wrack hinein, und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Er kam nicht zurück, also ich hinterher. Dann wurde die Sicht plötzlich schlecht, und da waren diese Kabel, in denen ich mich verhedderte. Ich hab Angst bekommen. Die Luft wurde knapp, und mein Computer fing auch an zu piepen. Dann tauchte zum Glück dieser Typ auf und half mir, mich zu befreien… irgendwie bin ich dann rausgekommen.
Wisdom: Meine Güte. Wo waren denn der DM und die anderen”
Einsicht: Wir waren nur zu zweit. Ich habe den Zuschlag für eine private Tour bezahlt. Ich habe ihn wiedergetroffen, kurz bevor mir die Luft auging…
Weisheit: Das war knapp.
Einsicht: Und dann wollte mir der Typ auch noch den Tauchgang in der Höhle verkaufen. Heute morgen klang das noch verlockend, aber jetzt… ich habe den zweiten Tauchgang storniert.
Weisheit: Was hat der DM denn zu dem ganzen Vorfall gesagt?
Einsicht: Nicht viel. Er ist jetzt mit der nächsten Gruppe am Wrack. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob das Tauchen wirklich etwas für mich ist.
Weisheit: Für mich hat das mit Tauchen nicht viel zu tun. Überleg mal, was du dir ursprünglich vorgenommen hattest. Lass es langsam angehen und such dir eine gründliche Ausbildung. Und vertraue deinem Instinkt. Ich bin echt froh, dass du da rausgekommen bist!
Über den Autor
Audrey Cudel ist Höhlenforscherin und unterrichtet Tech-Tauchen mit Schwerpunkt auf Sidemount und Höhlentauchen in Europa und Mexiko.
In der Tauchwelt ist sie für ihre Unterwasserfotografie bekannt, in der sie Tech- und Höhlentaucher in Szene setzt. Ihre Werke wurde in zahlreichen Magazinen veröffentlicht, z. B. Wetnotes, Octopus, Plongeur International, Perfect Diver, Times of Malta, sowie in den Publikationen von SDI/TDI und DAN (Divers Alert Network).
Der Übersetzer
Tim Blömeke unterrichtet Tech- und Sporttauchen in Taiwan und auf den Philippinen. Er ist Autor und freier Übersetzer, sowie Mitglied des Redaktionsteams von Alert Diver. Er taucht einen Fathom CCR. Im Netz erreicht man ihn über seinen Blog und auf Instagram.