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Fear and Loathing unter Wasser
Angst ist eine fundamentale, nützliche Emotion bei Menschen und anderen Säugetieren. Sie teilt dem Bewusstsein mit, dass Gefahr im Verzug ist. Gemeinsam mit anderen Emotionen spielt Angst eine wichtige Rolle in der Funktion unserer Psyche. Wenn man beispielsweise einen dunklen, engen Höhleneingang unter Wasser beängstigend findet, dann informiert diese Angst den Taucher (zutreffend), dass Tauchen in Höhlen riskant ist, insbesondere ohne entsprechende Ausbildung.
Angst kann jedoch auch kontraproduktiv sein: Manche Menschen mögen überhaupt nicht tauchen, weil sie sich vor der Begegnung mit dem Unbekannten fürchten, beispielsweise in Gestalt von Haien. In anderen Situationen kann Angst die Handlungsfähigkeit einschränken oder gar zu Panik führen. Wir können uns solche Fälle als Fehlfunktion der Angstreaktion vorstellen, verursacht durch den Aufenthalt in einer ungewohnten Umgebung (unter Wasser mit Tauchgerät), auf die uns die Evolution nicht vorbereitet hat.
In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung zum Thema Angst und ihre Relevanz für den Tauchsport.
Ein grauer Ammenhai in Maroubra (Australien). Dieser Fisch würde vielen Tauchern Angst machen. Ammenhaie sind jedoch spezialisierte Fischjäger (erkennbar an den spitzen, nach vorne gerichteten Zähnen), Angriffe auf Taucher sind extrem rar. In den meisten Fällen ist Angst vor Haien fehl am Platze.
Physiologie der Angst
Wenn ein Individuum Angst bekommt, ausgelöst beispielsweise durch ein unerwartetes Missgeschick unter Wasser, spielen sich im Körper eine Reihe von Veränderungen ab. Atemfrequez, Herzfrequenz und Blutdruck steigen an. Die meisten Menschen kennen solche Veränderungen aus eigener Beobachtung. Wir sind unserer Angst jedoch nicht hilflos ausgeliefert, sondern können sie durch geistige Konzentration und aktive Kontrolle unserer Atmung im Zaum halten.
Dies ist die erste Erkenntnis aus der Hirnforschung, mit der wir uns beschäftigen – das Gehirn führt Selbstgespräche. Die Mehrzahl der Nervenverbindungen im Gehirn haben ihren Ursprung nicht in den Sinnen (der Außenwelt), sondern in anderen Regionen des Gehirns selbst. Die für Planung und Selbstbeherrschung zuständigen Hirnregionen können die für die Angst verantwortlichen Regionen beeinflussen. Doch von welchen Hirnregionen sprechen wir hier?
Angst im Gehirn
Das menschliche Gehirn besteht aus unterschiedlichen Regionen, mit jeweils eigenen Funktionen zur Regelung unserer Emotionen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen. Die bei der Verarbeitung von Furcht wichtigste Region wird als Amygdala bezeichnet. Die Amygdala ist Teil des limbischen Systems, einem Netzwerk von Hirnbereichen, das für Emotionen und andere nicht willensgesteuerte Funktionen zuständig ist. Wir haben zwei Amygdalas, jeweils eine in der rechten und linken Hirnhälfte. Die Amygdala verknüpft Informationen von den Sinnen, wie Hören und Sehen, mit gespeicherten Informationen über unangenehme Ereignisse. Sie fungiert sozusagen als Schaltkasten, der uns mitteilt, wann und wovor wir Angst haben sollten.
Die Amygdala ist zudem an einem Prozess beteiligt, den wir als Angstkonditionierung bezeichnen. Wenn wir Schmerz empfinden und dabei ein bestimmtes Geräuch hören, beginnen wir, das Geräusch mit dem Schmerz zu assoziieren. In Zukunft kann das Hören des Geräusches allein ausreichen, uns einen Schauer über den Rücken zu jagen – wir haben gelernt, dieses Geräusch zu fürchten. Viele Tauchlehrer haben Erfahrungen mit Schülern, die als Kind einmal fast ertrunken wären und seitdem Angst vor Wasser haben. Diese Assoziation zwischen einem traumatischen Erlebnis (beinahe zu ertrinken) und einer Wahrnehmung (von Wasser umgeben zu sein) ist in der Amygdala gespeichert. Eine Angstkonditionierung wieder zu löschen ist anstrengend und braucht viel Geduld.
Die Amygdala ist eng mit einer anderen Hirnregion verknüpft, die als medialer präfrontaler Kortext bekannt ist.1 Der mediale präfrontale Kortex ist stark an den exekutiven Functionen beteiligt – Planung und Selbstbeherrschung. Die Verbindungen zwischen dem medialen präfrontalen Kortex (Selbsteherrschung) und der Amygdala (Angst) repräsentieren unsere Fähigkeit, Angst zu regulieren.
Angst und Inertgasnarkose
Die meisten erfahrenen Taucher sind sich einig, dass Gasnarkose einen Einfluss auf den Gefühlszustand hat. In punkto Angst kann die Wirkung der Narkose in beide Richtungen gehen: Sie kann beruhigend sein oder bestehende Ängste verstärken.
In den vergangenen Jahrzehnten wurden einige wenige Studien veröffentlicht, die sich direkt mit dem Zusammenhang zwischen Inertgasnarkose und Angst bzw. Anspannung befassen (zwei verwandte, aber nicht identische Konzepte).2,3 Eine Studie von Löfdahl und Kollegen hat untersucht, wie Versuchspersonen den emotionalen Gehalt von Bildern bewerten, während sie in einer Druckkammer dem Äquivalent eines Tauchgangs auf 39 Meter ausgesetzt sind. Unter hohem Druck bewerteten die Versuchspersonen emotional belastende und angsteinflößende Bilder als etwas weniger wirksam als an der Oberfläche. Die beruhigende Wirkung von Narkose kann mit dem Erfahrungsniveau einers Tauchers zusammenhängen – erfahrenere Taucher fühlten sich unter Narkose wohler.
Eine zweite Studie von Hobbs und Kneller zeigt, dass die Wirkung von Gasnarkose durch Anspannung verstärkt wird. In dieser Studie waren die Versuchpersonen – generell erfahrene Taucher mit im Mittel 300 Tauchgängen – tatsächlich unter Wasser, auf einer Tiefe von etwa 40 Metern. Auf dieser Tiefe legten sie eine Art IQ-Test ab, bei dem sie mit einer Zeitbegrenzung auf einer Tafel Buchstaben Zahlen zuordnen mussten. Jede einzelne Versuchsperson tat sich damit auf Tiefe schwerer als an der Oberfläche. Taucher, die berichteten, sie seien angespannt, schnitten am schlechtesten ab. Angst und klares Denken passen schlecht zusammen, und es sieht so aus, als werde diese Effekt durch Gasnarkose verstärkt. Könnte es sein, dass unter diesen Bedingungen die Amygdala besonders aktiv ist?
Tiefe Tauchgänge und Wracktauchgänge sind Aktivitäten, die in Tauchern Angst auslösen können. Wrack der Mugami Maru, Malapascua, Philippinen, auf 55 Metern Tiefe.
Wirkt Gasnarkose auf die Amygdala?
Die Frage, wie genau sich eine Gasnarkose auf die Amygdala auswirkt, liegt auf der Hand. Leider ist sie bisher unbeantwortet. Die Wirkung hoher Gasdrücke auf die Hirnregionen und einzelne Nervenzellen ist ein Nischenthema in der Hirnforschung.
Es gibt jedoch einen kleinen, aber wertvollen Bestand an relativ aktuellen Studien zu der Wirkung hoher Gasdrücke auf die Funktion von Nervenzellen im Allgemeinen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Funktionen von Nervenzellen nicht allein durch Änderungen der Fluidität der Zellmembfranen bei hohen Drücken ausgelöst werden. Hohe Gasdrücke wirken sich außerdem auf die Funktion der Ionenkanäle aus – Proteine, die als Pforten in der Membran von Nervenzellen fungieren. Soweit ich weiß gibt es jedoch bisher keine spezifischen Studien zum Verhalten der Amygdala unter hohen Gasdrücken.
Ist es möglich, von Studien zu Ionenkanälen auf Veränderungen im Angstzentrum, der Amygdala, zu schließen? Nur in einem sehr allgemeinen Sinn. Ionenkanäle sind in verschiedenen Kombinationen und mit unterschiedlicher Dichte in allen Nervenzellen der Amygdala vorhanden. Auf die eine oder andere Art und Weise sind daher alle Nervenzellen von der Wirkung betroffen.
Man kann sich als Analogie vorstellen, dass jemand gleichzeitig mehrere Teile eines Motorrads modifiziert – Motortuning, Bremsen, neue Felgen mit anderem Durchmesser. Haben diese Veränderungen eine Auswirkung darauf, wie das Motorrad läuft? Mit Sicherheit, aber was genau diese Auswirkungen sein werden, weiß niemand vorab. Mit der Amygdala und dem limbischen System verhält es sich ähnlich – ein tiefer Tauchgang hat mit Sicherheit Auswirkungen, aber man kann nicht vorhersagen, welche.
Jeder Mensch ist anders, und das gilt insbesondere für unser Gehirn. Die im Laufe eines Lebens gesammelten Erfahrungen erzeugen individuell spezifische Verbindungen in unserer Amygdala – die oben erwähnte Angstkonditionierung. Unsere Angstreaktionen sind Ergebnis dieses hochgradig individuellen Prozesses.
Literatur:
- Reppucci, C. J., & Petrovich, G. D. (2016). Organization of connections between the amygdala, medial prefrontal cortex, and lateral hypothalamus: a single and double retrograde tracing study in rats. Brain Structure and Function, 221, 2937-2962.
- Löfdahl, P., Andersson, D., & Bennett, M. (2013). Nitrogen narcosis and emotional processing during compressed air breathing. Aviation, space, and environmental medicine, 84(1), 17-21.
- Hobbs, M., & Kneller, W. (2011). Anxiety and psychomotor performance in divers on the surface and underwater at 40 m. Aviation, space, and environmental medicine, 82(1), 20-25
Der Autor
Dr. Klaus M. Stiefel ist Biologe, Tauchlehrer und Autor zu wissenschaftlichen Themen Er lebt auf den Philippinen. Sein jüngstes Buch “25 Future Dives”, mit Co-Autor Dr. James D. Reimer, ist 2024 im Verlag Asian Geographic (Singapur) erschienen. Klaus‘ Unterwasserfotografie & Videografie findet man in den sozialen Medien unter “Pacificklaus”.
Der Übersetzer
Tim Blömeke unterrichtet Tech- und Sporttauchen in Taiwan und auf den Philippinen. Er ist Autor und freier Übersetzer, sowie Mitglied des Redaktionsteams von Alert Diver. Im Netz erreicht man ihn über seinen Blog und auf Instagram.