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Bereiter Taucher

Situative Aufmerksamkeit: Das As im Kartenhaus

'Situative Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, aus der Umgebung Daten zu erfassen, diese Daten zu Informationen zu verarbeiten, und diese Informationen anschließend in Verbindung mit früheren Erfahrungen zu nutzen, um genauere Vorhersagen über die Zukunft zu treffen. Wenn wir diese drei Schritte – Wahrnehmung, Verarbeitung, Projektion – genauer unter die Lupe nehmen, können wir verstehen, was situative Aufmerksamkeit ist, und sie zu verbessern lernen.

  • Wahrnehmung – hier geht es um unsere Sinnesorgane, in erster Linie unsere Augen. Was wir sehen, hat einen riesigen Einfluss auf dass, was wir für real halten. Eine Vielzahl optischer Täuschungen bestätigt dies. Um unsere situative Aufmerksamkeit zu verbessern, müssen wir wissen, wo wir nach Daten ‘suchen’ sollen, z. B. kritische Daten wie Tiefe, Grundzeit, Deko, Position, Ausstiege usw. häufiger kontrollieren. Effektive Briefings können hier helfen.
  • Verarbeitung – hier geht es darum, unsere Wahrnehmungen in einen Zusammenhang zu stellen. Hierbei spielt die Vorerfahrung eine wichtige Rolle: Dinge, die uns völlig unbekannt sind, verstehen wir nicht so einfach. Zur Verbesserung unserer situativen Aufmerksamkeit sollten wir daher Erfahrungen in unterschiedlichen Umgebungen sammeln.
  • Projektion – diese basiert ebenfalls auf Vorerfahrungen. Bei der Projektion geht es aber nicht um das Hier und Jetzt, sondern um die Zukunft. Daher ist Erfahrung extrem wichtig. Die Erfahrung muss jedoch nicht direkt sein, man kann auch aus den Erfahrungen und Berichten anderer Menschen lernen.

Auf Grundlage falscher Informationen getroffene “gute” Entscheidungen sind ein größeres Problem als auf Grundlage richtiger Informationen getroffene schlechte Entscheidungen; daher ist situative Aufmerksamkeit so wichtig. MEHR Aufmerksamkeit geht nicht, aber man kann lernen, auf die richtigen Dinge zu achten.'

Garth Lock, Eigentümer und Geschäftsführer von The Human Diver, einem Unternehmen für Online- und Präsenzunterricht zu dem Faktor Mensch beim Tauchen

Spielen Sie Schach? Die Kontrahenten beobachten das Spiel und berechten die nächsten Züge. Situative Aufmerksamkeit ist ähnlich, ein kurzer, taktischer Denkprozesses. Situative Aufmerksamkeit beim Tauchen bedeutet, Umgebungsvariablen und Ereignisse wahrzunehmen, ihre Bedeutung in Raum und Zeit zu erfassen und zu verstehen, und sie letztlich für die Zukunft als Hilfsmittel, als Risiko, oder als Neben- oder Randeffekt einzuordnen. Situative Aufmerksamkeit ist die Grundlage erfolgreicher Entscheidungsfindung. Ihr Fehlen ist eine Form menschlichen Versagens – einer der häufigsten Ursachen von Tauchunfällen.

Tauchgänge lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Ausbildungstauchgänge und Tauchgänge außerhalb der Ausbildung. Das Ziel von Ausbildungstauchgängen ist es, neue Fertigkeiten zu entwickeln und dadurch nach und nach die verschiedenen Stockwerke unseres Kartenhauses zu erklimmen. Die situative Aufmerksamkeit nimmt den Platz ganz oben in der Pyramide ein, denn nur Taucher mit sicheren Grundlagen (Atmung, Tarierung, Wasserlage, Schwimmtechnik, Teambewusstsein) haben ausreichend freie geistige Kapazität, ihre Umgebung aufmerksam im Auge zu behalten. Nach dem Erwerb der Grundfertigkeiten während der Erstausbildung verlegt sich der Schwerpunkt weiterer Ausbildungseinheiten stärker auf Sicherheit, mit dem Ziel, zuverlässige und wirksame Reaktionen auf eine Reihe potentieller Problemsituationen zu entwickeln: Was tun bei Luftnot, was tun bei Geräteversagen, was tun, wenn das Team getrennt wird, was tun bei einem verpassten Dekostopp, was tun bei Sichtverlust, und so weiter. Diese eingeübten Antworten auf potentielle Probleme sind das Ergebnis eines geistigen Modells, das auf der über die Jahrzehnte erworbenen kollektiven Erfahrung der Tauchergemeinschaft beruht. Im Handbuch “Basic Cave Diving: A Blueprint for Survival” (1979) des legendären Höhlenforscher Sheck Exley wurden die Grundpfeilern dieses Modells aufgestellt: Aufbau von Wissen, Reaktionen auf Probleme, und Ausbildungsmethoden auf Grundlage der Analyse zurückliegender menschlicher Fehler und Unfälle.

Dieses Modell hilft zu verhindern, dass Taucher von einer Flut von Informationen überwätigt werden – anstatt uns für jedes Problem spontan und unter Zeitdruck eine Lösung ausdenken zu müssen, können wir auf ein Repertoire antrainierter Standardreaktionen zurückgreifen, das eine große Bandbreite von Situationen abdeckt. Der Haken dabei ist, dass diese Reaktionen auch tatsächlich trainiert und regelmäßig wiederholt werden müssen, um zu Automatismen zu werden. Es gibt Ausbildungsverbände, die eine regelmäßige Überprüfung der Fertigkeiten ihrer Mitglieder vorschreiben. Und auch wo dies nicht der Fall ist, empfehlen viele Tauchlehrer ihren Schülern, sich am Ende jedes Tauchgangs ein paar Minuten Zeit für Sicherheitsdrills zu nehmen.

Tauchgänge außerhalb der Ausbildung geben Tauchern die Gelegenheit zum Aufbau von Erfahrung, welche wiederum die Voraussetzung für das korrekte Verarbeiten von Informationen und das Treffen von Vorhersagen ist. Doch Vorsicht! Auch wenn viele Taucher stolz auf die Anzahl der Einträge in ihrem Logbuch sind, ist diese Zahl nicht gleichbedeutend mit Erfahrungsreichtum: Tausend Tauchgänge im Baggersee um die Ecke qualifizieren niemanden zum Betauchen von Wracks im Nordatlantik. Ein echter Erfahrungsschatz entwickelt sich durch häufiges Tauchen in unterschiedlichen Umgebungen mit unterschiedlichen Risiken und Herausforderungen: Einstieg und Ausstieg, Strömung, Temperatur, Sicht, Tiefe, usw. Je breiter und profunder die Erfahrung eines Tauchers ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass dieser Taucher eine eintretende Situation mit einem bekannten Szenario in Verbindung bringen kann und die korrekte Lösung wählt.

Doch es gibt weitere Fallstricke: Wiederholung und Erfahrung allein führen nicht zu einer korrekten Analyse einer Situation. Anschaulich beschrieben wird dies im Höhlengleichnis des altgriechischen Philosophen Plato. Dieses handelt von einer Gruppe Menschen, die ihr gesamtes Leben an die Wand einer Höhle angekettet verbracht haben. Sie nehmen Gegenstände  nur in Form von Schatten war, den diese im Schein eines Feuers auf die rückwärtige Höhlenwand werfen. Die Gefangenen in der Höhle geben diesen Schatten Namen, die Schatten stellen die Lebensrealität der Gefangenen dar, doch in Wirklichkeit sind sie sind nur ein schlechtes Abbild der Gegenstände selbst. Im Gleichnis repräsentieren die Schatten unsere Wahrnehmung der Welt durch die Sinne. Die Gegenstände selbst im Licht der Sonne repräsentieren die eigentliche Realität, welche uns nur durch Anwendung unseres Verstandes zugänglich ist: Ohne (Aus-)bildung führt auch umfassende Erfahrung zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Bezogen auf die situative Aufmerksamkeit beim Tauchen führt eine durch Mangel an Aubildung bedingte verzerrte Wahrnehmung zu Verzerrungen in der Verarbeitung von Informationen und falschen Vorhersagen, mit möglicherweise gefährlichen Folgen.

Es gibt zwei Arten Faktoren, welche die situative Aufmerksamkeit von Tauchern beeinträchtigen können: grundlegende und kontextuelle Verzerrung. Bei der grundlegenden Verzerrung verhält es sich wie mit den Gefangenen im Höhlengleichnis: Auch mit jahrelanger Erfahrung verharrt ein Taucher ohne die richtige Ausbildung in einem Zustand des Irrtums. In manchen Gegenden mag es als normal gelten und erlaubt sein, mit einer Flasche Luft und ohne Deko-Planung auf 60 Meter und tiefer zu tauchen, ohne Bewusstsein oder Verständnis der damit einhergehenden Gefahren. Der Mangel an Wissen um die tatsächlichen Risiken führt zu falschen Vorhersagen und schlechten Entscheidungen.

Kontextuelle Verzerrung beschreibt temporäre Effekte, bei denen situative Faktoren wie Stress, mentale Überlastung, Erschöpfung oder Komplexität den Geisteszustand von Tauchern beeinflussen und zu menschlichem Versagen und Unfällen führen können. Das Tauchen im Team (wie in einem früheren Artikel der “Kartenhaus”-Reihe beschrieben) ermöglicht die Minderung der Risiken von kontextueller Verzerrung durch Redundanz in der Analyse von Situationen – mehr Gehirne. Neben der individuellen situativen Aufmerksamkeit ist es daher wichtig, eine kollektive situative Aufmerksamkeit im Tauchteam zu entwickeln. Hier ist zudem zu bedenken, dass nicht alle Menschen zur Entwicklung von situativer Aufmerksamkeit gleich befähigt sind – die gleiche Aubildung führt nicht immer zu gleichen Ergebnissen. Der Grad, zu dem jedes Teammitglied über die zur Erfüllung seiner Rolle im team erforderliche situative Aufmerksamkeit verfügt, entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Mission. Die optimale Planung eines Tauchgangs erfordert, die individuellen Stärken und Schwächen jedes Teammitglieds zu ermitteln und bei der Zuweisung von Rollen zu berücksichtigen.

Ein wichtiges Instrument zur Förderung eines gemeinsamen Verständnisses und der kollektiven situativen Aufmerksamkeit ist die Nachbesprechung (das Debriefing) von Tauchgängen. Beim Debriefing trägt jedes Teammitglied seine individuelle Interpretation der verschiedenen Situationen und entsprechender Entscheidungen bei, und es entsteht eine gemeinsame Analyse des Erfolgs oder Misserfolgs des Tauchgangs.

Situative Aufmerksamkeit ist das Obergeschoss unseres Kartenhauses – das As, wenn man so will. In der Militärluftfahrt beschreibt der Begriff “As-Faktor” die Fähigkeit, die Gesamtheit der Abläufe in der unmittelbaren Umgebung eines Luftkampfes im Auge zu behalten. Auch wenn die Taucherei gemeinhin ein eher friedliches Unterfangen ist, so macht auch hier die Fähigkeit der situativen Aufmerksamkeit, als Individuum und kollektiv, den Unterschied zwischen Sehen und Visualisieren, zwischen reaktivem und proaktivem Verhalten, und zwischen Unfallopfern und Überlebenden dar. Wie Sheck exley schrieb: “Der Schlüssel zum Überleben ist die Fähigkeit, Angst zu unterdrücken und sie durch besonnenes, klares, schnelles und korrektes Denken zu ersetzen.”


Die Autorin

Audrey Cudel ist Höhlenforscherin und unterrichtet Tech-Tauchen mit Schwerpunkt auf Sidemount und Höhlentauchen in Europa und Mexiko.

In der Tauchwelt ist sie für ihre Unterwasserfotografie bekannt, in der sie Tech- und Höhlentaucher in Szene setzt. Ihre Werke wurde in zahlreichen Magazinen veröffentlicht, z. B. Wetnotes, Octopus, Plongeur International, Perfect Diver, Times of Malta, sowie in den Publikationen von SDI/TDI und DAN (Divers Alert Network).


Der Übersetzer

Tim Blömeke ist freier Übersetzer für Wissenschaft, Technik und Recht, sowie passionierter Wrack- und Höhlentaucher. Er unterrichtet Tauchen (Sport und Tec) in Taiwan und auf den Philippinen.

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